FolkWorld #69 07/2019
© Walkin' T:-)M

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T:-)M's Nachtwache

Meine erste Auseinandersetzung mit kritischem Gedanken- und Liedgut in der DDR fand in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre statt. In seiner Autobiographie Made in DDR - Liedermacher: unerwünscht beschrieb Kalle Winkler, wie er als Neunzehnjähriger zum FDJ-Pfingstfestival 1979 am Brunnen der Völkerfreundschaft auf dem Berliner Alexanderplatz einige Arbeiterlieder, ein paar Lieder von Bettina [Wegner] und welche von mir zum Besten gab.

Dass die hygienischen Zustände im Mittelalter katastrophal gewesen sind, ist gemeingut. Dass die Menschen sich aber nicht gewaschen hätten, um Ansteckungen und Krankheiten zu vermeiden, ist nur eine der vielen Mythen über diese Epoche. Im Gegenteil kam es erst in der Neuzeit in Mode, Parfüm statt Wasser zu verwenden. Hier nun aber enden die Wasserspiele tatsächlich tödlich: im Badezuber auf dem Mittelalterspektakulum im Benediktinerkloster Wiblingen treibt kopfunter Nils Jadewald, Frontmann der Spielmannsband Cantus Ferrum. Der ehemalige Instrumentenbauer und Autor Helmut Gotschy [53] schickt den Ulmer Kriminalhauptkommissar Konrad Bitterle in seinem zweiten Fall mit einem Augenzwinkern auf Spurensuche in die Mittelalterszene.

Überall standen Grüppchen, es wurde getuschelt oder rumgetönt. Offenbar waren die wildesten Theorien im Umlauf. Sogar von zu Propagandazwecken inszeniertem Selbstmord war die Rede, ausgeführt, um Cantus Ferrum den ultimativen Gruselfaktor zu verpassen. "Damit stehlen sie Subway to Sally oder In Extremo die Show, hundertpro!" "Das war ein Drachenbiss! Cantus Ferrum hat die Büchse der Pandora geöffnet, und nun treiben die Geister ihr Unwesen. Das Weltenende ist nah!"

Bitterle träumt davon, am Abend bei dem einen oder anderen Hefeweizen und seiner Jazzplattensammlung gemächlich vor sich hin zu altern, stattdessen gibt es vorher aber noch Nelkenmet und Tollkirschlikör und das nervtötende Getröte ringsum:

Ein Trupp Gaukler mit Instrumenten stürmte den Innenhof. Sie boten eine ganze Palette an schrägen Tönen, wilder als jede indische Brassband. Dudelsackgetöse fegte über den Platz, Glockenspiel und Schellenkränze schepperten um die Wette, und zu allem Überfluss dröhnte eine taktlos große Marschtrommel, die sich ein Zwerg vor den Bauch geschnallt hatte.

Gotschy: Tod im Drachenzuber
Cantus Ferrum ist eine Musikgruppe mit langer und bewegter Vergangenheit:

Die gibt es schon wirklich lange. Angefangen haben sie wie die meisten Bands heutzutage mit Deutsch-Folk, zuerst war da hannes wader, dann haben Gruppen wie Ougenweide oder Lilienthal altes deutsches Liedgut entstaubt, entsprechend instrumentiert und teils auf Irisch oder Amerikanisch getrimmt. Das kam in den frühen Siebzigern gut an und hat regelrecht Weichen gestellt. Nach und nach wurden die Musiker besser, die Stücke wurden anspruchsvoller, vor allem aber politischer. Und auf dieser Schiene ist die Gruppe Jadewald viele Jahre gut gefahren. Nils' Name war sowohl Gruppenname als auch irgendwie Programm. ... Jadewald, das hat so etwas Mystisches, Feenzauber, Gnome. ...

In jüngster Zeit hatte sich das Quartett als eine Art Gothic-Folk-Rock mit mittelalterlichem Touch neu erfunden:

Das sollte Musik sein? Guido Wölfle war nicht wiederzuerkennen. ... Diese ruß- und ölverschmierte Figur hampelte mit nacktem Oberkörper und nur einem Lederlappen um die Lenden hinter einem Riesenamboss herum, der bei jedem Hammerschlag von innen glutrot aufleuchtete. Hinter Wölfle ragten unterschiedlich lange Metallrohre aus einem Gestell, die er ebenfalls anschlug und die dabei Funken sprühten wie Schweißelektroden, wenn sie in Kontakt mit Masse kamen. Immerhin war es rhythmisch halbwegs passabel, wenn auch brachial und eintönig, auf die Zwei und auf die Vier. Wölfle schien konzentriert und schaute hin und wieder zu Nils Jadewald rüber, der hinter einem blauen, futuristisch anmutenden Gerät stand, das eher an ein Raumschiff als an ein mittelalterliches Musikinstrument erinnerte. Jadewald drehte an einer Kurbel, drückte Tasten und trat gleichzeitig auf eine Legion am Boden platzierter Pedale, die den Sound veränderten und ein Höllenspektakel verursachten. Als er sich dem Mikrofon näherte, donnerte ein Scwall blutrünstiger Vokale aus den Lautsprecherboxen. ... Rechts neben Jadewald stand dessen Frau Gudrun. Sie spielte einen Dudelsack und drehte sich dabei wie ein Derwisch auf dem Höhepunkt seiner Ekstase. Ihr Rocksaum flog hoch wie ein Kettenkarussell. Die Vierte auf der Bühne musste Pauline sein. Sie saß auf einer Bockleiter und zupfte eien Schoßharfe, dabei wurde sie von unten angestrahlt und wirkte im Gegensatz zum Rest der Gruppe wie ein Engel, der eine fromme Botschaft verkünden will, aber von den anderen daran gehindert wird.

Tod im Drachenzuber ist ein Krimi, der den geneigten Leser vor allem des Settings wegen ansprechen wird; die Auflösung verpufft dagegen wie der Traum Cantus Ferrums vom Auftritt auf der Wackenbühne. Der Mittelaltermarkt findet tatsächlich alle zwei Jahre in Ulm statt (www.mittelalter-ulm.de); das im Roman beschriebene Musikduo Fairy Dream existiert tatsächlich: in realiter sind das Ida Elena da Razza und Albert 'der Spielmann' Dannenmann (www.albert-der-spielmann.de), letzterer war jahrelang Mitglied in Blackmore's Night.

Spielmann Albert (alias Barde Balthasar) rät hier einem interessierten Kriminalisten:

Bleib beim Dudelsack und lass die Finger von der Drehleier, es sei denn, du findest einen wirklich guten Instrumentenbauer. Ansonsten wirst du nicht glücklich damit. Diese Mistdinger machen meist nur Ärger, vor allem dann, wenn man sie braucht. – Was spielst du denn für eine? Kannst du mir vielleicht die Adresse von deinem Bauer geben? – Augenblick, ich seh mal nach. Womöglich habe ich noch ein Kärtchen von ihm im Etui.

Aber der Instrumentenbauer ist ja jetzt unter die schreibende Zunft gegangen ...

Helmut Gotschy, Tod im Drachenzuber. Emons Verlag, 2019, ISBN 978-3-7408-0510-4, 254 S, €10,90



Artist Video www.helmut-gotschy.de
www.albert-der-spielmann.de


Das ist die wahrhaftge zauberei:
der nase schnüffelei,
des munnes gered,
des ohres gerücht,
des gemächtes gier,
des hirnes trägheit,
des rückens gebuckel
aus des fürsten vorbild seht ihrs hier.

ist ein fiktives, dem Spruchdichter und Meistersinger Hans Sachs zugeschriebenes Gedicht, das im Mittelpunkt einer anno 1579 in meiner Heimat zwischen Lichtenberg, Salder und Oelber im Braunschweiger Land spielenden Mordserie steht. Der noch unbedarfte, junge Jurist Konrad von Velten ermittelt in seinem ersten Kriminalfall (von bisher dreien) und muss alsbald erkennen, dass sich auch der fünfzehnjährige Erbprinz Heinrich Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel im Visier des Meuchelmörders befindet. Die Kriminalhandlung selbst ist einigermaßen vorhersehbar; Spannung ergibt sich aus dem historischen Hintergrund, einer Hexenverbrennung 14 Jahre zuvor. Insgesamt ist der Autorin Susanne Gantert ein überdurchschnittlicher Lokalkrimi gelungen; eine Leseprobe findet sich auf ihrer Website.

Susanne Gantert, Das Fürstenlied. Gmeiner Verlag, 2015, ISBN 978-3-8392-1730-6, 341 S, €12,99


Zu Lebzeiten rief die französische Schriftstellerin George Sand (eigentlich Amantine Aurore Lucile Dupin de Francueil, 1804-1876) ihrer feministischen und sozualistischen Ansichten wegen heftige Reaktionen bei ihren Zeitgenossen hervor. Die Stimme der Frau in einer Zeit, da die Frau schwieg (André Maurois) sei eine Latrine (Baudelaire) und Milchkuh (Nietzsche), wohingegen Balzac, Heine und Dostojewski zu ihren Bewunderern zählten.

Die Musikantenzunft
Sozialkritik findet sich auch mehr als genug in ihrem Roman Die Musikantenzunft (Les maîtres sonneurs, 1853), der 1856 von Claire von Glümer (1825-1906) ins Deutsche übertragen und nun von Dudelsackspieler Christoph Pelgen [40] [61] (Adaro, La Marmotte, Cassard) neu herausgegeben worden ist.

Die Schauplätze der Erzählung sind die zentralfranzösischen Landschaften Berry und Bourbonnais Ende des 18. Jahrhunderts, die Protagonisten die Bauern und Holzfäller und natürlich die Dudelsack- und Drehleierspieler. Auch für die Autorin muss dies schon ein Blick in eine vergangene Epoche gewesen sein:

Man glaubt nämlich dort noch allen Ernstes, was auch hier noch manchmal Glauben findet, nämlich daß man seine Seele dem Teufel verschreiben muß, wenn man Musiker werden will, und daß dann Satan eines Tages kommt, dem Musikanten die Sackpfeife aus den Händen reißt, sie auf seinem Rücken zerschlägt und ihn dann zwingt, sich selbst ein Leid anzuthun.

Der Titel des Romans stand Pate für die Rencontres internationales des luthiers et maîtres sonneurs, ein von 1976 bis 2013 ausgerichtetes Festival für traditionelle Musik und Instrumentenbau. Dieses fand in St. Chartier statt, nur ein paar Sackpfeifentöne entfernt von George Sands Domizil in der Gemeinde Nohant.

George Sand, Die Musikantenzunft. Verlag der Spielleute, 1853/2019, ISBN 978-3-943060-09-6, 344 S, €22,00



Artist Video Cassard @ FROG

www.duo-cassard.de

Angeblich seien auch Biermann-Lieder[62] darunter gewesen. Winkler wird wegen "Staatsfeindlicher Hetze" verhaftet und gerät in die Mühlen von Polizei, Justiz und Staatssicherheit. Nur wenig später wird er nach einem Auftritt bei einer Blues-Messe[61] erneut inhaftiert und letztendlich freigekauft in die Bundesrepublik ausgebürgert.

Das inkriminierte Lied war nicht Biermanns "Ballade vom Panzersoldaten und dem Mädchen", wie man ihm fälschlicherweise vorwirft - Wenn man dieses Lied singt, wird man eingesperrt. Nicht nur wegen des Textes, der in der DDR unter Staatsfeindliche Hetze fällt, sondern hauptsächlich darum, weil Wolf Biermann das Lied gemacht hat. Indem man es singt, bekennt man sich zu ihm. Davor haben sie Angst, und deshalb ist es verboten. -, sondern sein eigenes "Am Morgen nach der Fete".

Dieses beginnt mit folgenden Zeilen:

Da sitzen wir jetzt hier:
Am Morgen nach der Fete
Um uns leere Flaschen
Ach, wenn wir doch noch volle hätten ...

Prophetische Worte; für den SED-Staat war die Party jedenfalls im Jahr 1989 vorbei. Das vorweg, kommen wir nun zu einer neuen Lektüre.

»Deutsche Volkslieder«, so war im August 1986 eine Tagung der Theodor-Heuss-Akademie der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Gummersbach überschrieben. Zu den Teilnehmern gehörten auch Joachim Piatkowski und Wolfgang Rieck, die unter der Überschrift »Plattdeutsche Lieder« über ihre Musik und ihre Arbeitssituation in der DDR berichteten. Piatkowski und Rieck sah ich dann 1988 wieder beim Bardentreffen in Nürnberg. Sie waren Teil eines DDR-Gemeinschaftsauftritts. [...] Barbara Thalheim trat beim Eröffnungskonzert im Burggraben auf, das unter dem Motto »3 mal deutsch« stand. Dabei traf sie auf Konstantin Wecker aus der Bundesrepublik und Erika Pluhar aus Österreich. Thematisch ging es um Heimat, Grenzen und politisches Selbstverständnis. Diese beiden Konzerte weckten ein neues Interesse in mir. Bis dahin war die Folk- und Singer/Songwriter-Szene der USA mein Tema gewesen. Die Liedermacher, vor allem die aus der DDR, kamen hinzu, als ich im Februar 1990 über das 20. und letzte Festival des politischen Liedes berichten konnte.



Michael Kleff & Hans-Eckardt Wenzel (Hg.), Kein Land in Sicht. Ch. Links Verlag, 2019, ISBN 978-3-96289-038-4, 336 S, €20.00

So erinnert sich Michael Kleff[65] an die "Wendezeit". Es war der Beginn einer drei Jahre lang andauernden Beschäftigung mit der politischen Kunst in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Zwischen 1990 und 1992 führte Michael Kleff über 30 Interviews mit Liedermachern und Kabarettisten, wovon Auszüge im Rundfunk gesendet worden und in diversen Zeitschriften erschienen sind.

Damals war Michael Kleff tätig beim westdeutschen Szene-Magazin Folk-Michel; von 1998 bis 2014 war er Chefredakteur der Musikzeitschrift Folker. Er gehörte sowohl der Jury der Liederbestenliste als auch des Preises der deutschen Schallplattenkritik an. Außerdem veröffentlichte er neben vielen anderen Dingen "Das Woody Guthrie Buch"[27] (er ist nämlich mit dessen Tochter Nora Guthrie verheiratet). Im vergangenen Jahr wurde die Persönlichkeit, die sich auf höchst vielfältige Weise um die Genres Folk und Lied in Deutschland verdient gemacht hat, mit dem Ehrenpreis des Deutschen Weltmusikpreises RUTH ausgezeichnet.

Drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall hat der Christoph-Links-Verlag, der uns schon mit Büchern über die DDR-Folkszene[61] und Rockpoet Gundi Gundermann[67] beglückt hat, nun 29 Interviews Kleffs mit Liedermachern und Kabarettisten ans Tageslicht gebracht. (Folkies sind leider keine dabei; die Folklorewerkstätten Ende der 70er in der DDR, Jürgen Wolff, Jams und Aufwind werden im Vorrübergehen kurz erwähnt.)

Uns interessiert natürlich der Kanadier Perry Friedman, der sich 1959 in Ost-Berlin niederließ und dort nach dem Vorbild Pete Seegers[68] Hootenannys ins Leben rief, eine Mischung aus Folkloreabend und Offener Bühne.

Als ich in der DDR landete, wunderte ich mich, dass kaum Volkslieder gesungen wurden, vor allem von der Jugend nicht. Mir wurden viele Erklärungen dafür gegeben, von denen eine war, , dass ich die Volkslieder während der Zeit des Dritten Reiches missbraucht worden seien, und ich habe gesagt: Na gut, aber die Volkslieder sind nicht verantwortlich dafür, dass sie missbraucht wurden. Die Leute, die sie missbraucht haben, waren verantwortlich, aber viele Volkslieder bleiben das, was sie waren: schön und gut. Eine Idee hinter dem Hootenanny-Klub war auch, dass wir die Möglichkeit hätten, eine Brücke zu dem zu bauen, was früher da war - zum Volkslied und besonders zum demokratischen deutschen Volkslied, zu Brecht und Eisler und allen anderen, die in den Zwanziger-, Dreißigerjahren wichtig waren. Aber auch zu dem, was neu war in dieser sozialistischen DDR.

So ziemlich jeder DDR-Liedermacher sollte in irgendeiner Form durch das Nadelöhr der Singebewegung gehen. Den Autoritäten war daran aber eine ganze Menge suspekt, nicht zuletzt die englisch-sprachige Bezeichnung.

Natürlich geht das Leben nie so, wie man denkt, und es gibt immer Änderungen, Abzweigungen ... Mit einem Mal hörte ich von einem Funktionär, [...] dem die Aufgabe zugetragen worden war, mir zu sagen, dass der Hootenanny-Klub [...] nicht mehr Hootenanny-Klub heißen soll. [...] Er sagte: »Es muss möglich sein, innerhalb der deutschen Sprache ein Wort zu finden, das deutsch ist und genauso gut wie ,Hootenanny'.« [...] Ich wollte erklären und versuchte dann später auch zu beweisen, dass das Wort Hootenanny in Wirklichkeit aus dem Deutschen stammte. Es gab viele Leute aus dem Erzgebirge, die nach Amerika gingen und einen Teil ihres kulturellen Lebens mitnahmen, und eines dieser Dinge war ein »Hutzenabend⋘, der dem Hootenanny auch in der Form sehr ähnlich war. Da habe ich gesagt: »Hör mal zu! >Nanny<, >Hootenanny<, >Hutzenabend<, >Hootezenaband< - wahrscheinlich ist da eine Verbindung.« Aber das kauften die mir nicht ab.

Perry Friedman

Der Hootenanny-Klub Berlin hieß alsbald Oktoberklub, eine politische Liedgruppe die bis 1990 bestehen sollte. Perry Friedmann, der im Westen so oft für seinen DDR-Aufenthalt geschmäht wurde, hatte es auch nicht leicht. Bettina Wegner erinnert sich, als er nicht mehr gebraucht wurde, wurde er so finster unter den Tisch gekehrt von der FDJ.

Es kam ein Punkt, da haben sie gesagt, wieso eigentlich amerikanisch-kanadische Lieder, und auf einmal hatte ich überhaupt keine Arbeit mehr. Ein Freund vom Rundfunk sagte mir: »Ich darf dir das nicht sagen, aber ich sage es dir: Du wirst nicht mehr im Rundfunk gespielt.« Ich fragte: »Wieso?« Und er sagte: »Weil du amerikanische Lieder singst.« Ich sagte: »Kaum, ich singe meistens deutsche Volkslieder.« Er sagte: »Ja, aber mit Akzent.«

Das Dasein in der DDR spielte sich auch in der Kunst zwischen Anpassung, Kompromiss und offenem Widerstand ab; vor allem jenseits der Schubladen. Man war oftmals eben nicht einfach Täter oder Opfer, Widerstandskämpfer oder Opportunist.

Der unerwartet zügige Zusammenschluss von Ost und West bedeutete zweifelsohne eine Erlösung für viele Künstler, jedoch ging zu derem Leidwesen bezüglich staatlicher Förderung, zuverlässigem Publikum und daraus folgend finanzieller Absicherung auch so Einiges verloren. Michael Kleff fragte nach Erfahrungen (Umgang mit der Vergangenheit) und Erwartungen (Existenzsicherung, neue Sujets). Es ist also ein Zeitdokument, das inhaltlich in vielen Dingen überholt ist, aber ausgezeichnet die Gefühlslage zu Beginn der neunziger Jahre wiedergibt.

Der singende Baggerfahrer Gerhard Gundermann, dessen Leben im vergangenen Jahr von Regisseur Andreas Dresen als Spielfilm inszenierte wurde,[67] formuliert den Katzenjammer nach dem Untergang der sozialistischen Gesellschaftsform und dem Verlust der Illusionen und Utopien.[31]

Es ist so, dass ich die ganze Zeit das Gefühl habe [...], dass meine Generation ein wenig übersprungen wird. Wir haben immer viele Ideen gehabt und konnten nie ans Ruder, weil immer die Alten drangesessen haben, egal in welchen Etagen. Und jetzt ist es so, dass die nach uns auch schon Ideen haben und bereits hinter uns schubsen, sodass wir als Generation gar nicht dazu kommen, unsere Ideen zu realisieren, die vielleicht nicht schlecht gewesen wären.

Peter Ensikat, der meistgespielte Kabarettautor der DDR, muss angesichts der real-existierenden Zustände eher schmunzeln.

Ich fühle mich eigentlich gar nicht viel anders als vorher, denn ich bin wieder da angelangt, wo ich vorher schon einmal war, mache mich schon wieder richtig unbeliebt. Wenn ich zum Beispiel von einem unserer ostdeutschen Fernsehsender höre, dass ich politisch nicht tragbar sei, fühle ich mich wieder richtig zu Hause, das kenne ich von früher.

Grundsätzlich gilt aber, dass selbst international erfolgreiche Künstler wie beispielsweise die Brecht-Interpretin Gisela May vor einem Nebelland (Wenzel) und einer ungewissen Zukunft standen.

Ich habe immer gesagt: Für mich ist Chansonsänger überhaupt kein Beruf. Ich bin Schauspielerin, und das, was ich als Chansonsängerin gemacht habe, war praktisch eine Nebenstrecke, die ich mir als Luxus erlaubt habe. Aber wie man davon leben kann, ist mir überhaupt nicht klar. Das war bei uns so eine Illusion, dass das geht, wenn man drei Liedchen singt.

Matthias Görnandt beschreibt das Umschlagen beim Kulturkonsum äußerst bildlich:

Zu Barbara Thalheim zum Beispiel ging vor der Wende ins Landestheater einer Provinzstadt wie Eisenach ein großes Spektrum von Leuten - vom Zahnarzt über den Apotheker bis hin zur alternativen Szene. Weil die alle wussten: Die Thalheim ist ein standhaftes Mädel und ist so dagegen, da gehen wir hin! Und die klatschten auch alle wild. Derweil hat der Zahnarzt DSU gewählt, der Apotheker CDU und halten sie alle für eine rote Emanze. Innerhalb der alternativen Szene hat sich das auch geschieden, also gehen nur noch die hin, die wirklich Bärbel Thalheim für gut halten, und die anderen gehen, was weiß ich, zum Freibier, das aus Bayern eingeflogen wird.

Jürgen Walter, erfolgreicher Interpret chansonhafter Schlager, hat die Erkenntnis gewonnen, dass es besser sei, sich in das Risiko zu stürzen und in sein Eigenes zu investieren, als die Klinken anderer Leute schön blank putzen, während meine unbenutzt bleiben.

Mit den großen bundesdeutschen Schallplattenfirmen hatte ich überhaupt kein Glück. Sie hätten mich zwar gerne gehabt, aber nicht meine Lieder, weil die doch ein bisschen zu intelligent seien - so diese Sprüche. Meine Antwort war dann immer: »Meinen Sie vielleicht ein bisschen tot?« Die Frage blieb auch: »Wie doof hätten Sie es denn gern?«

Kein Land in Sicht? Ist noch ein Publikum oder ein Markt vorhanden? Was ist mit dem Buch lesenden, ins Theater gehenden, Liedermacher hörenden Volk? Haben diese Nischenkünstler noch eine Zukunft? Martin Miersch, Liedtexter der Gruppe TEEater, konstatiert eine Mischung aus Frust und Hoffnung.

Ich glaube, die Zeiten des ideologischen Hammers, des politischen Liedes, Chansons, wie immer man es bezeichnen will, beziehungsweise die des Liedermachers sind vorbei. Ich glaube, die Aufgabe ist jetzt in erster Linie, die Leute sensibel zu halten oder weiter zu sensibilisieren, dass sie ein Gefühl oder ein Empfinden für das entwickeln, was passiert. Nicht stumpfsinnig einfach losrennen, hinterm Geld her oder hinterm Konsum, einfach das Menschliche wieder rauszubringen.

Auch Udo Magister sah seinerzeit noch nicht allzu schwarz.

Ob das immer Leute sein werden, die mit der Gitarre vorm Bauch oder am Klavier Lieder singen - die Formen werden sich sicher ändern. Einige sind auch dazu übergegangen, mit anderen Musikern zusammenzuarbeiten, sich eine Band in den Rücken zu stellen [...] Die Form ist, denke ich, nicht so das Wichtige. Wichtig werden Lieder, wenn sie das Lebensgefühl der Leute wirklich ernst nehmen und genau betrachten, dann werden sie eigentlich immer wichtig bleiben. Und Themen, über die es zu berichten gilt und wo es notwendig ist, die auch mit künstlerischen Mitteln festzuhalten, wird es immer geben, das ist nicht das Problem.

Aber Miersch zieht auch eine ernüchternde Bilanz.

Es war zumindest bei uns so, dass man als Schreiber immer das Gefühl hatte, dass das, was man da schreibt, auch ernst genommen wird. Vielleicht ernster, als es wirklich notwendig war. Ich denke nicht, dass ein auf der Bühne gesungenes Lied, so kritisch es auch ist, das Publikum dazu bewegt, rauszugehen und draußen Barrikaden zu bauen - das ist völliger Quatsch. Aber offenbar hatten manche Funktionäre den Eindruck, dass das passieren könnte, und haben uns entsprechend sehr ernst genommen. Bitterernst. Das war fast schon wieder komisch. Das ist in Zukunft jetzt vielleicht weg, was auch ein bisschen traurig ist - man kann vielleicht alles sagen, es verpufft dann aber ein bisschen, verschwindet, und man kriegt keine Rückreaktion mehr, ob man getroffen hat oder nicht.

Norbert Bischoff hat gänzlich alle Hoffnung fahren lassen.

Was heißt das überhaupt, wenn man die Freiheit hat, alles Mögliche zu machen, aber im Endeffekt damit weniger erreicht.

Bettina Wegner

Artist Video Bettina Wegner
@ FROG


www.bettinawegner.de

Der erste Liedermacher in der DDR, der sich offen zu seiner Homosexualität bekannte, fand im neuen Großdeutschland jedenfalls nicht seinen Bestimmungsort. Er nahm sich am 9. November 1993 das Leben; das rechte Datum, zu verschwinden, für einen Deutschen, wie Bischoff in seinem Abschiedsbrief schrieb.

Auch Gerhard Gundermann, Peter Ensikat, Perry Friedmann, Gisela May, Gerd Eggers und Gisela Kraft sind bereits von uns gegangen. Udo Magister, Dieter Kalka, Martin Miersch, Jörg Sobiella und Bianca Tänzer haben sich offenbar von der Bühne zurückgezogen. Bettina Wegner hat 2007 offiziell ihre Abschiedstournee absolviert, tritt gelegentlich aber noch auf, während Rainer Schulze sich als Kommunalpolitiker rund um Wernigerode für Kunst und Kultur engagiert.

Dieter Kalka dokumentiert die Leipziger Liederszene. Matthias Görnandt entwickelte das Festival transVOCALE in Frankfurt/Oder, während Stefan Körbel 2000 das neue Festival Musik und Politik mitbegründete. Jens Quandt komponiert und organisiert Musik für Film und Fernsehen, während er nebenher mit Andreas Dresen und Gundermann-Darsteller Alexander Scheer in einer Band spielt.

Edgar Harter gehört immer noch dem Berliner Kabarettensemble Distel an und auch Gisela Oechelhaeuser spielt nach wie vor Politisches Kabarett. Gina Pietsch singt Brecht, Annekathrin Bürger und Barbara Kellerbauer treten gelegentlich mit Chansons auf. Arno Schmidt ist seit 2013 wieder zusammen mit befreundeten Liedermachern unterwegs.

Gerd Krambehr, Dirk Michaelis, Jürgen Walter (zu seinem 50. Bühnenjubiläum erscheint im Herbst ein neues Album mit dem Titel "Heimat") und nicht zuletzt Stephan Krawczyk und Hans-Eckardt Wenzel haben auch im vereinigten Deutschland Beachtung und Wertschätzung gefunden. Man könnte fast sagen: je oller, desto doller!

Letzterer kann sich zugutehalten, 1978 den Johannes-R.-Becher-Preis und 2003 den Deutschen Weltmusikpreis Ruth erhalten zu haben, ganz zu schweigen von diversen Auszeichnungen der deutschen Schallplattenkritik und der Liederbestenliste. Wenzel liefert auch ein schönes Schlusswort zur musikalischen deutsch-deutschen Vergangenheitsbewältigung, mit dem wir das Thema an dieser Stelle dann auch ruhen lassen und uns wieder der Gegenwart und Zukunft des Genres zuwenden können.

Mein musikalisches Empfinden hat sich erstaunlicherweise sehr geändert, was, glaube ich, mit dem anderen Lebensgefühl zusammenhängt, auch mit einer größeren Laxheit. Ich habe früher oft nicht begriffen, dass Westler sehr stark im tonalen und weniger im verbalen Bereich denken, und auf einmal kann ich das nachvollziehen, habe selbst oft Lust, viel mehr Informationen von mir in das Musikalische zu legen als in den Text, weil ich den Worten weniger vertraue als vorher - oder vielleicht nicht den Worten, sondern mehr Ohren nicht mehr so vertraue und denke, dass die Leute nicht mehr die Lust haben, das zu entschlüsseln oder sich herbeizuträumen, was so eine Phrase oder ein Satz aufreißen könnte.





      Um das Feuer von Ol Persson
      tanzen wir den Sommertanz,
      und wir tanzen, Ol Persson fiedelt,
      bis die Asche grau verweht.

helms lieder - Die Lieder von Helmut König
Der 1930 in Bremen geborene und heute in der Wedemark lebende Helmut König, genannt helm, betätigte sich ab 1947 in der bündischen Jugend. Im Voggenreiter Verlag betreute er die Liedersammlung Der Turm und gründete die Schallplattenfirma Thorofon, deren Veröffentlichungen zahlreiche Auszeichnungen wie den Preis der Deutschen Schallplattenkritik erhielt. König publizierte Liedersammlungen seiner Wandervogelkollegen tejo (Walter Scherf) und pitter (Peter Rohland) [55], schrieb und vertonte aber auch selbst zahlreiche Lieder.

helms lieder ist nun die Ernte aus sechzig Jahren meines Umgangs mit bündischem Singen: 105 Lieder von "Abends treten Elche aus den Dünen" bis "Zwischen Don und Woronesh". Neben ein paar Vertonungen bündischer Autoren als auch Texten von Brecht, Heine, Graßhoff, Kästner und Busch handelt es sich vor allem (freie) Übertragungen aus so ziemlich allen europäischen Sprachen - Dänemark bis Russland, vom Baltikum bis zum italienischen Stiefel.

Einiges Liedgut ist durchaus nicht unbekannt: Die drei Zigeuner, die am Tor der Burg standen, sind die Raggle Taggle Gipsies der gleichnamigen Child-Ballade, [69] das "Girl in Scarlet town" nennt sich Barbara Allen. "Warst du jemals in Quebec?" ist ein populärer Shanty (Donkey Riding), "Steigt der Mond am Himmelsbogen" ein walisisches Wiegenlied (All Through the Night). "Behüt euch Gott, ihr lieben Leut" singt man zu Weihnachten in ganz England (God Rest Ye Merry Gentlemen), Dolly tanzt in der "Sandgate Street" in Berwick-upon-Tweed in der nord-englischen Grafschaft Northumberland (Dol-li-a). Auf der anderen Seite des Atlantiks rastet ein "armer Wandrer Gottes" (Wayfaring Stranger) in "einer kalten Nacht" (Long Black Veil). Das "Schneeweiß Vögelein" ist ursprünglich flämischer Herkunft, aber mittlerweile auch in allen deutschen Landen heimisch geworden; so wird sich eine Variante dieses Liedes auch auf dem kommenden Album der Deutsch-Folk-Gruppe Bube Dame König befinden.

Die vollständigen Texte sind im mehrstimmigen Notensatz dargestellt und mit Akkorden zur Begleitung ergänzt. Typisch für helms Lieder ist etwa dieser Skaldengesang eines isländischen Barden, ins Deutsche übertragen und als Kanon gesetzt:

      Trank und trank die ganze Nacht,
      trank durch jede Stunde.
      Nur noch leer Flaschen stehn
      vor mir in der Runde.
      Dumpfer Morgen kündet Tag,
      schwer sind meine Glieder,
      und ich sing mit trunknem Mund
      nachtverhangne Lieder.

helms lieder - Die Lieder von Helmut König. Spurbuchverlag, 2018, ISBN 978-3-88778-546-8, 205 S, €26,80


Vassiliev - Meister der irischen Musik
Der Akustikgitarrist Konstantin Vassiliev wurde in Sibirien geboren und studierte in Novosibirsk und Münster/Westfalen. Er ist der Schöpfer von Gitarren-Arrangements von Stücken russischer, spanischer, französischer und italienischer Meisterkomponisten, denen er nun die Meister der irischen Musik folgen lässt. Unter den rund 25 Titeln finden sich lebhafte Tanzmelodien wie der "Swallowtail Jig" (siehe unten das Easy-Guitar-Tutorial-Video) und der bekannte "Drowsy Maggie Reel". Vassiliev hat aber auch eine Reihe quasi-klassischer Komponisten ausgegraben, die sich von der traditionellen Musik der Grünen Insel inspirieren lassen.

Das beginnt mit dem Altmeister der irisch-barocken Harfenmusik Turlough O'Carolan (1670-1738), dem Erfinder der Nocturne genannten Klavierstücke John Field (1782-1837), bis zum Opernsänger Michael William Balfe (1808-1870) und dem Komponisten Thomas O'Brien Butler (1861-1915), der im 1. Weltkrieg an Bord der von den Deutschen torpedierten Lusitania verstarb. Da finden sich Märsche ("Brian Boru's March"), Gesangsmelodien ("Star Of The County Down"), Klageweisen und Wiegenlieder, zuguterletzt der Song "Freedom On The Old Plantation" von Militärkapellmeister Patrick Sarsfield Gilmore (1829-1892), dessen Titel schon zeigt, dass er wie viele andere Iren in den 1840ern auch nach Amerika auswanderte. Gilmore sollte später die Friedensfeiern zum Ende des Sezessionskrieges organisieren und Gilmore’s Concert Garden in New York (heute: Madison Square Garden) begründen.

Die Arrangements (Noten und Tabulaturen plus Begleit-CD) sind für fortgeschrittene Anfänger gedacht. Die Anmerkungen sind in deutscher als auch englischer Sprache.

Konstantin Vassiliev, Meister der irischen Musik für Gitarre - Bekannte und neu entdeckte Stücke, leicht arrangiert. FingerPrint/Acoustic Music FP 8186, 2019, ISBN 978-3-945190-32-6, 68 S, €19,80 (Buch + CD)



Photo Credits: (1ff) Book Covers, (8) Mittelalterspektakel zu Ulm, (9) Perry Friedman, (10) Helmut Gotschy, (11) Fairy Dream, (12) Bettina Wegner, (13) Duo Cassard, (14) Gerd Krambehr, (15) Gerhard Gundermann, (17) Arno Schmidt, (18) Stephan Krawczyk, (19) Konstantin Vassiliev (unknown/website); (16) Wenzel (by Walkin' Tom).


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