FolkWorld-Artikel von Walkin' T:-)M:

Die FolkWelt zwischen Harz und Heide (2):

Halloween & Liedermaching

Halloween, das alte Keltenfest, kam und ging. Martin Luther kämpfte gegen die bösen Geister an, aber gegen die Invasion amerikanischer Festivitäten nutzen nun mal keine Thesen an die nächste Kirchenpforte genagelt. Im Celtic Twillight tummelten sich wieder zahllose Bands, im Guten wie im Bösen. Und während der keltische Partytiger umherschlich, entdeckten die Germanen unter uns die alte neue Kultur des Liedermaching.

Im Zentrum der Region liegt das vom alten Sachsenherzog Bruno gegründete Braunschweig - um gleich dem Halbwissen entgegenzutreten, die Stadt habe seinen Namen der Tatsache zu verdanken, dass man Hitler hier durch Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft den Weg zum Kanzleramt erleichtert habe.

In einem Mausoleum in Braunschweig wurde der Freikorpsmajor von Schill (1776-1809) beigesetzt, Held verschiedener patriotischer und blutrünstiger Balladen (-> FW#21): O weh euch Franzosen, wie mähet der Tod! Wie färben die Reiter die Säbel rot! Die Reiter sie fühlen das deutsche Blut, Franzosen zu töten, das deucht ihnen gut. Auch ein Braunschweiger ist Norbert Schulze (1901-90), von dem Knaller stammen wie "Bomben auf England", "Vorwärts nach Osten" und "Lili Marleen". 1931 muss Alban Berg einen schriftlichen Nachweis seiner deutschen Staatsangehörigkeit vorweisen, damit der "Wozzeck" aufgeführt werden konnte; 1941 erregt die holländische Kapelle "Jon Kristel" mit jüdischer Jazzmusik der Systemzeit Missfallen:

Die Kapelle bringt Stücke zu Gehör, zu denen holländisch und ab und zu auch englisch gesungen wird. Bei verschiedenen Musikstücken steigen die Musiker auf die Stühle und ergehen sich in unglaublichen Verrenkungen. Bedauerlicherweise findet diese Kapelle insbesondere bei Jugendlichen großen Anklang und werden durch den Beifall gezwungen, diesen Unsinn zu wiederholen. (Lagebericht des Sicherheitsdienstes der SS)
Zu angenehmeren Dingen: Das einstigen Opernhaus auf dem Hagenmarkt war 1690 nach Hamburg das zweite allgemein zugängliche Opernhaus in Deutschland. Schüler des Martino-Katharineums waren u.a. Hoffmann von Fallersleben (-> FW#21) und Louis Spohr. Industriegründungen um 1900 verdanken wir Pianos von Schimmel und Grotian-Steinweg.

Heute hat sich die Heimat des einstigen Folkclubs "FOLK 69" wie 19 andere deutsche Ortschaften zur Kulturhauptstadt Europas 2010 beworben, was selbst der Oberbürgermeister als tollkühn bezeichnet. Folk wird vermutlich nicht zu den geplanten Projekten gehören. Haben deshalb die Pipers & Drummers of Brunswiek auf dem Stadtteilfest im Magniviertel "Muss I denn zum Städele hinaus" geblasen.

More MaidsZum Städele hinein, und das zum wiederholten Male, verschlug es die More Maids: Gudrun Walther (Fiddle, Akkordeon; siehe auch Gout d'hier und Cara), Barbara Steinort (Bouzouki, siehe auch DeReelium -> FW#12, FW#17) sowie Marion Fluck (Flöte, Gitarre). Nach dem Vorabend im Brenndorf Twistringen ist das Kulturzentrum Brunsviga an der Reihe. In Braunschweig geht bei Stevensons Schwarzbrennerhymne "Shining Clear" jedoch kein Raunen durch die Menge. Brennschweig - brenne und schweige! Nein, ganz so verstockt ist das Publikum hier auch nicht.

Beginnend mit dem wunderbaren "Red is the Rose", abschließend mit dem altbekannten "Butterfly"-Slipjig, also ganz wie auf ihrem Livealbum (-> FW#24). Dazu Altbewährtes (-> FW#18) sowie neue Köstlichkeiten. Mit rasanten Tunes, munteren Folkpop-Songs und viel Charme wird das Publikum problemlos gewonnen. Und zum guten Schluss wird "Tom(my)'s Dream" dem Rezensenten gewidmet. Die dahinter stehende Geschichte werde ich aber erst meinen Enkeln enthüllen.

Das macht Lust auf mehr. More maids, more tunes, more whatever. Was für ein Glück, dass nur einen Abend später das Irish Folk Festival auf der The Road To Tradition Tour 2003 in der neuen Millenium-Halle gastiert. Bei Paulis Veranstaltungsbüro bekommen IG Metall-Mitglieder sogar 20% Preisnachlass. Na, wenn das kein Grund für Folkies ist, in die Gewerkschaft einzutreten, oder für Gewerkschaftler öfter in Folkkonzerte zu gehen!

Braunschweig hat einen großen Visionär. Werner Lindemann ist Nachfahre der Begründer der Dampfziegelei C. Grimme & Co und diese Familie residiert seit 1872 auf einem großen Areal am Madamenweg. Werner baut ein Amphitheater, frei nach dem antiken Epidaurus und für 5000 Besucher. Aber, als ob das nicht ausreichen würde, kommt noch eine Veranstaltungshalle, eine kleinere Projekthalle und ein parkähnliches Gelände zum Wandeln und Verweilen hinzu. 200.000 qm² Kulturpark werden hier von einem Einzelkämpfer für die Kunst und Kultur geschaffen, ohne das die Stadt vorab auch nur um einen Euro gebeten wurde. Schaut man Werner Lindemann in die Augen, spürt man, hier weiß einer ganz genau, was er tut. Und das Glänzen signalisiert, dass er auch gar nicht anders kann, getrieben von einer Idee, die immer mehr Gestalt annimmt und sich unübersehbar fundamentiert in dem hohen, aufgeschütteten Berg, der das Theater einbettet und der höchste topografische Punkt der Stadt werden soll. (Subway)

Der Abend beginnt - wie es sich für ein irisches Konzert gehört - mit schottischen Gästen. Wer glaubt, dass die Harfe ein leidenschaftsloses Instrument sei und nur für halb-barocke Stücke a la Turlough O'Carolan (-> FW#20) geeignet ist, der muss sich schwer entäuscht fühlen. Auch wenn Catriona McKay 1999 den Harfenwettbewerb im irischen Keadue gewonnen und somit auf Carolan-Spuren gewandelt ist, offenbart sie: Ich liebe es, die Harfe in Musikstile zu integrieren, wo man sie nicht vermuten würde. Und so wird fetzig drauflos musziert - Carolan würde vermutlich vor Neid erblassen -, umso mehr, wenn man einen kongenialen Partner wie den Shetland-Fiddler Chris Stout dabei hat. Letztere ist selbst kein Unbekannter, Mitglied von Ross Kennedy's Gathering Storms (-> FW#17), Fiddler's Bid (-> FW#8, FW#18, FW#21) und Salsa Celtica (-> FW#15, FW#26).

Paddy KeenanAls Nächstes steht das traditionelle Liedchen "Canadee-i-o" auf dem Programm. Sängerin Eílís Kennedy kommt jedoch nicht aus Kanada, sondern ist irisch durch und durch. Aus Dingle um genau zu sein, der gälisch-sprachigen Region im äußersten Südwesten Irlands. Als zweites Stück folgt auch gleich darauf das gälische "Tá Mé 'mo Shuí", von dem ich mir nach der damaligen CD-Rezension habe sagen lassen, dass ich es falsch übersetzt habe (-> FW#22). Eílís regiert mit glockenklarer Stimme; ihre Begleitband ist aussergewöhnlich besetzt: Klarinettistin Virginia McKee and Cellistin Aishling Fitzpatrick bringen originelle und interessante Klangfarben ins Spiel.

Quotenmann und Begleitgitarrist der Eílís Kennedy Band ist Tommy O'Sullivan (-> FW#23), der auch gleich auf der Bühne bleiben darf. Denn Tommy unterstützt auch den für mich absoluten Höhepunkt des Abends: Paddy Keenan (-> FW#23).

In der irischen Musik gibt es Legenden, sagt Kollege O'Regan, und Legenden und dann gibt es Paddy Keenan. Andere heißen Paddy Keenan den Jimi Hendrix oder John Coltrane der Uilleann Pipes. Sein erstes Konzert gab der Rakish Paddy im zarten Alter von 14 Jahren. Angeblich schlug er eine Zusammenarbeit mit den Beatles aus, als diese nach neuartigen Klängen Ausschau hielten. In den 1970-ern ist Paddy Mitbegründer der legendären Bothy Band, der bis heute einflussreichsten Musikgruppe der traditionellen irischen Musik. Alle die großen Bands von heute - Altan, Dervish, Lunasa, Solas - orientieren sich immer noch an den Bothies. Seit 1991 lebt Paddy in Massachusetts und ist nur noch auf Stippvisite in der Alten Welt.

Diesem Programmpunkt habe ich entgegengefiebert, seitdem ich Paddy einen Monat zuvor auf dem Johnny Keenan Banjo Festival im irischen Longford hören konnte. Zu Ehren seines vor zwei Jahren verstorbenen Bruders Eamon Galldubh & Paddy Keenan griff er dort auch einmal zum Banjo, aber Paddy Keenans eigentliches Ding sind die Pipes und die gibt er heute ausgiebig zum Besten (-> FW#26). Paddys Legato rockt das Haus, während er sich in jede einzelne Note hineinlegt, um das Äusserste herauszuholen. Well done, Paddy!

Das war es dann aber auch irgendwie. Die jungen Damen und Herren von Galldubh, inklusive Fiddlerin Zoé Conway (-> FW#24), können keinen mehr draufsetzen, auch wenn mit Bass und Schlagzeug versucht wird, Stimmung zu machen. Das ist bei einem bestuhlten Publikum aber immer schwer. Sängerin Aideen Curtin hat eine expressive Stimme, da wäre im Repertoire noch einiges mehr als "Star of the County Down" zu machen. In den besten Momenten - wenn die Tunes und Rhythmen etwas abgedrehter werden - klingt das Sextett wie eine etwas zahmere Version von Kíla (-> FW#26).

Man hat den Eindruck, dass nun auch immer mehr (junge) Iren beginnen, die Tradition aufzumotzen (siehe auch -> FW#21). For better or worse. Wie hieß es in der Ankündigung:

Nach dem Motto der Weg ist das Ziel ist The Irish Folk Festival (TIFF) seit 29 Jahren on the road. Hunderttausende Besucher haben sich in dieser Zeit den Weg zeigen lassen, um Irland und seine Kultur kennen, verstehen und schätzen zu lernen. Unterwegs zu sein, war den Musikern, Veranstaltern und Besuchern immer wichtiger als irgendwo fest anzukommen. Warum auch? Man hat es schließlich mit einer lebenden Tradition zu tun, die sich fortwährend entwickelt. Die Vielfalt irischer Kultur ist viel interessanter und lebendiger als banale Patentlösungen oder Klischees. Das TIFF ist auf jeden Fall irisch aber auf keinen Fall typisch irisch. Manche Künstler führen einen direkt in die Vergangenheit, andere in die Zukunft, denn The Road to Tradition ist eben keine Einbahnstraße.

Dem Publikum scheint aber auf einmal die Luft ausgegangen zu sein. Die Musiker lassen sich gottseidank davon nicht stören und kehren zu einer gemeinsamen Session auf die Bühne zurück. Es kommt tatsächlich wieder Stimmung auf und die Braunschweiger tauen noch einmal auf, sodass sogar mehr Zugaben verlangt werden, als die versammelte Musikantenschaft willig oder in der Lage ist zu geben. Vielleicht ändert sich das ja im Laufe der Tournee noch.

Kommen wir doch noch einmal auf die Gewerkschaften zurück. Entsteht da eine neue Vorliebe für das Folk? Im Gewerkschaftshaus Salzgitter jedenfalls wird Flook präsentiert, und das noch mit Hintergedanken. Das Surplus-Eintrittsgeld nämlich wird gegen die Atommüllendlagerung im Schacht Konrad verwendet. Da möchte man doch mit Woody Guthrie Flook (-> T:-)M's Nachtwache) singen: You gotta go down and join the union, you gotta go join it by yourself...

Flook muss man hier eigentlich nicht mehr vorstellen (-> FW#1, FW#7, FW#11, FW#11, FW#12, FW#22). Auch an diesem Abend werden die Zuhörer in das multikulturelle Reich der Flöten entführt. Nun, multikulturell insofern, als dass nicht nur aus der irisch-schottischen Tradition geschöpft wird, sondern auch Melodien aus der Bretagne, Asturien und Bulgarien zu hören sind. Ich weiss nicht, ob die Bandmitglieder die Gegend wiedererkannt haben: Brian Finnegan (diverse Flöten) war mit "Upstairs in a Tent" einmal zu Gast auf dem St. Patrick's Day Celebration Festival in Braunschweig, Sarah Allan (Flöten, Akkordeon) mit ihrer damaligen Gruppe "Big Jig" auf dem Folkfestival in Wolfenbüttel. (Leider eine musikalische Eintagsfliege - das Festival, nicht die Band.) Dazu spielt Ed Boyd Gitarre, und immer öfter mit dem Wah-Wah-Pedal, und John Joe Kelly zeigt seine Künste auf der Rahmentrommel. Bei seinem Bodhran-Solo werden alle Möchtegern-Schlagzeuger im Saal gelb vor Neid.

Ein Abstecher sei an dieser Stelle erlaubt zu unseren westfälischen Stammesgenossen in Münster. Auch weil der Verfasser dieser Zeilen einer der Mitorganisatoren des 3. Pigeon on the Gate-Festivals ist. Benannt nach und inspiriert von dem irischen Missionar Columban: So wie die irischen Wandermönche des frühen Mittelalters Kultur und Gelehrsamkeit ins barbarische Mitteleuropa nach der Völkerwanderung gebracht und das antike Erbe vor dem Vergessen bewahrt haben, so will Pigeon On The Gate mit erfrischender und handgemachter Musik eine Schneise in die kulturelle Ödnis der Jahrtausendwende schlagen. Columban ist der erste namentlich bekannte Ire, der Deutschland aufgesucht hat, und Autor des ältesten Liedes mit dem Schauplatz Rhein (s. "Colum's Song").

Zum dritten Mal in Folge erklimmen deutsche Irish-Folk-Combos die Bühne des Bennohauses, um den Münsteranern die heiligen Töne beizubringen. Der mitveranstaltende Folk-Treff wird gerade 35 Jahre alt (Deutschlands ältester Folkclub, siehe auch gesonderten Artikel), seit 25 Jahren wird im Bennohaus kulturpädagogische Arbeit geleistet, welches vor 10 Jahren rundum saniert wurde. Bei soviel Gründen zum Feiern ist dann sogar das Lokalfernsehen dabei. Das Osnabrücker Quintett An Rinn Dooish (-> FW#19, CD-Rezension in dieser FW-Ausgabe) eröffnet den bunten Reigen; der Höhepunkt ist die All-Star Band Dooish. An diesem Abend besteht sie aus Fiddlerin Tina Fastje (Lynch the Box -> FW#25, Steampacket), Uilleann Piper Johannes Schiefner (Limerick Junction, Friel's Kitchen -> FW#23), der ein Rowsome-Set sein eigen nennt (-> FW#26), Sänger und Gitarrist Jørgen Lang (Ex-Hoelderlin Express, Laundry List -> CD-Rezension in dieser Ausgabe) sowie Bodhranist Benedikt Terrahe (Deirin De -> FW#24).

Da ich mich und meine Leute aber nicht allzusehr selbst über den irischen Klee loben möchte, erlaube ich mir einfach die Lokalzeitung zu zitieren:

Das Osnabrücker Quintett An Rinn um den echten Iren (seit 30 Jahren in D-land) Brian McSheffrey benutzte denn auch fachgerecht das umfangreiche Instrumentarium und sorgte damit für ein höchst abwechselungsreiches Set. Es kam einiges zum Einsatz, seien es Fiddle, Bodhran, Spoons, Akkordeon oder Banjo und anderes Besaitetes wie gar eine Dulcimer (laut Witzbold McSheffrey auch zum Vorbereiten von Dudel-Salat geeignet). Damit (plus markiger Gesang) ließen sich allerlei Sounds, fetzige Tunes, Mitsing-Songs und anderes, was der Freude am Folk Ausdruck verleiht, trefflichst gestalten. Das thematische Repertoire reichte vom irischen Frühling (ginstergelb) über Einwanderer (dieses Mal aus den USA nach Irland) bis zu schottischen Fischern im Zeichen der Zeit.
Im Bann der keltischen Folklore sieht sich das Quartett Dooish, das die Möglichkeiten seiner Instrumente reichlich auskostete: von Bodhran und Flöte über Gitarre vor allem bis zu den Uilleann Pipes von Johannes Schiefner und der feurigen Fiddel von Tina Fastje, die auch mal mit leicht rauchiger Stimme ins Jazzige wechselte. Insgesamt tat sich auch bei Dooish ein tolles Spektrum auf, das schließlich im Finale mit allen Beteiligten des Abends gipfelte und bis nach Mitternacht einfach Spaß machte. (MZ)

Schnitt! Während die Kelten Party feiern, haben die Germanen die alte neue Kultur des Liedvortrags wiederentdeckt. Was hier aber nicht heissen soll, das eine gegen das andere auszuspielen. Beides hat seine Zeit und seine Berechtigung.

Und wie das so immer ist, es kommt volle Dröhnung, sprich: Alle möglichen Veranstaltungen finden an einem Tag statt. Gehe ich nun zu Liederjan (-> FW#12, FW#17, FW#17, FW#18, FW#24)? Oder doch besser zu Degenhardt & Degenhardt (-> FW#23, FW#23)? Ich entscheide mich schließlich dazu, der gegenwärtigen Generation deutschen Liedtums eine Chance zu geben. Im Jugendzentrum Forellenhof in Salzgitter findet das Festival Monsters of Liedermaching statt. Weil ein Liedermacher allein auch nur wenig Publikum anzieht, tut man sich halt zusammen, um Synergien zu erzeugen. Das Konzept geht auf und man zählt immerhin 85 zahlende Besucher.

Liedermaching heißt dem eigenen Verständnis nach:

Der erste Klampfengott der Menschheitsgeschichte war wohl der vorsteinzeitliche Jäger, der im Beerenrausch nach seinem Bogen griff und sich dann minutenlang selbstverliebt dem unglaublichen Ton hingab, den er immer wieder durch eine kleine Bewegung seines Zeigefingers erzeugen konnte. Der erste Liedermacher war dann der, der in einem anderen Zustand herbaler Extase auf die Idee kam, dazu verbal seinen Sermon von sich zu geben. Dem protestorientierten Liedermachertum der Sechziger und frühen Siebziger folgte die Phase der Liedermeyerei, die unter dem Deckmantel, das französische Chanson wiederaufleben zu lassen, ein bis dahin eher revolutionäres Genre der Bürgerlichkeit einverleibte und kommerziell bis aufs erbärmlichste ausquetschte.
Keine große Plattenfirma hat derzeit einen Liedermacher unter 40 im Angebot. Trotzdem gibt es eine ausgeprägte neue Kultur des gesungenen Wortes in Deutschland, sie wird nur bisher von der Öffentlichkeit fast nicht wahrgenommen. Ihre Namen rufen bei den meisten nur ein Achselzucken hervor, dabei haben sie alle eine Qualität, die den wenigsten älteren Vertretern ihres Genres gegeben war: Unterhaltungswert. Da setzt sich tatsächlich einer mit 'ner Wanderklampfe vor die Leute und rockt den Saal. Da hört man plötzlich ein textorientiertes Lied zur Gitarre, ohne unmittelbar zu gähnen oder ein Schuldgefühl zu entwickeln. Nein, man muß lachen. Seltsam, nicht? Das kennt man gar nicht so. Gibt es aber. (www.liedermaching.de)
Liedermaching heißt vor allem aber auch, auf den Spuren von Joint Venture zu wandeln, deren Klassiker "Holland" und Götz Widmanns "Trauben" auch noch im Laufe des Abends erklingen werden (-> FW#23, FW#26). Es kommt allerdings nicht jeder der Glorreichen 7 dieser Veranstaltung an das Niveau und den Wortwitz der großen Vorbilder heran.

Das Programm beginnt um halb zehn und dauert 4-5 Stunden. Die Freunde der Lagerfeuer-Gitarre sind bühnensüchtig: Rüdiger Bierhorst, Burger von den Schröders, die Flotte Totte, www.weiherer.com Frische Mische, Fred Timm, Vicki Vomit. Die Texte sind - nach eigenem Eingeständnis - ohne Feingefühl und Takt. Liedtitel heißen z.B. "Popstars kacken nicht" oder "Ficken für Deutschland".

Der Exot in der spaßigen Runde - geographisch wie inhaltlich - ist der Weiherer aus Bayern (-> FW#26). Eher ernsthaft aufgelegt, in Söllnerscher Manier (-> FW#13 ) ohne dessen Brachialgewalt, wird es ihm beim Publikum eher schwergemacht. Verschärfend kommt hinzu, das kaum jemand sich die Mühe macht, die Dialekt-Texte zu verstehen. Schade, denn dadurch verpasst man das Beste. Depperte Zwischenrufe werden jedoch trocken gekontert, der Weiherer hat die Langsamkeit für sich entdeckt. Es gibt auch keinen Grund zur Resignation. Ich vermute, das ein oder andere Lied wird noch aktuell sein und gesungen werden, wenn die faulen Witze längst in der Bartwickelmaschine gelandet sind. Oder im O-Ton Weiherer: So ist des Leben, jetzt sing i halt. Brauchst ja net zuhörn, wenn's dir net g'fallt.

Zum guten Schluss noch ein Beitrag für T:-)M's Rätselkolumne, entdeckt in einem Leserbrief in der Braunschweiger Zeitung:

Wer ist das? Sitzt in einer der vorderen Reihen, versteinertes, miesepetriges Gesicht, jede Pointe rauscht an ihm verständnislos vorüber?
Es ist der Kulturkritiker, dem man schon während der Aufführung ansieht, was hinterher für ein Artikel herauskommt.

Die FolkWelt zwischen Harz & Heide (1): Kles/zmer schpiln ein scheenes Schpil (FW#26)

Photo Credit: Walkin' T:-)M, The Mollis (Flook)


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Zum Inhalt der FolkWorld Nr. 27

© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 02/2004

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