FolkWorld #71 03/2020
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Friedrich Hölderlin: Zornige Sehnsucht

Am 20. März 2020 wäre Friedrich Hölderlin 250 Jahre alt geworden. Brahms, Hindemith und Eisler vertonten seine Texte, und jetzt Michael Zachcial und die Grenzgänger.

Friedrich Hölderlin

www.hoelderlin-gesellschaft.de

Johann Christian Friedrich Hölderlin (* 20. März 1770 in Lauffen am Neckar, Herzogtum Württemberg; † 7. Juni 1843 in Tübingen, Königreich Württemberg) war ein deutscher Dichter, der zu den bedeutendsten Lyrikern seiner Zeit zählt. Sein Werk lässt sich innerhalb der deutschen Literatur um 1800 weder der Weimarer Klassik noch der Romantik zuordnen.

Werk

Das lyrische Werk

Hölderlins Bedeutung als Dichter beruht auf seinem lyrischen Werk. Er bevorzugte die hohen Formen der Poesie (Hymne, Ode, Elegie).

Jugendgedichte (1784-88)

Die Schülergedichte lassen den Geist des Pietismus erkennen. Hölderlin beklagt die lebensfeindliche Enge der Klosterschulen; seine Gedichte sind von Melancholie, Einsamkeit und Rückzug in die Innerlichkeit geprägt. Vorbilder sind die Dichter der Empfindsamkeit, Klopstock und der junge Schiller.

Der Bruch mit der Jugenddichtung erfolgte erst im Jahre 1790, als Hölderlin bereits zwei Jahre im Stift war. Hölderlin begrüßte begeistert die französische Revolution, begann sich mit Kants kritischer Philosophie auseinanderzusetzen und las intensiv griechische Literatur und Philosophie. Das antike Griechenland stellte das Leitbild dar, das Hölderlin der feudalabsolutistischen Unterdrückung seiner Gegenwart entgegensetzte. Die frühen Tübinger Hymnen feiern die Befreiung der Menschheit und bleiben doch an die Harmonievorstellungen des 18. Jahrhunderts gebunden. Jochen Schmidt urteilt: „Getragen sind alle diese Reimhymnen von einer idealistisch-abstrakten Emphase, die das Konkrete und Reale überhöht und verflüchtigt.“ In Menschenbeifall (1796) kritisiert Hölderlin das leere Pathos der frühen Hymnen selbst.

Die Frankfurter Odendichtung (1796–1798)

Hölderlin-Briefmarke

In den Jahren 1794–1798 konzentrierte sich Hölderlin auf seinen Roman, den Hyperion. Das lyrische Werk trat dem gegenüber zurück. Hölderlin bildet dennoch in dieser Zeit seine Meisterschaft in der Oden-Dichtung aus. Die meisten Oden der Frankfurter Zeit sind Kurzoden mit zwei oder drei Strophen, die zum Teil später weiter ausgearbeitet werden. Verglichen mit dem Hymnus erfordert die strenge Form der Ode Konzentration und große geistige Disziplin. In den Oden findet Hölderlins pantheistische Weltanschauung ihren Ausdruck, die sich am antiken Pantheismus, an Spinoza, am spinozistischen Schrifttum seiner Zeit und am Naturkult Rousseaus orientiert.

Die lyrische Dichtung der Homburger Zeit (1798–1800)

Nach der Trennung von Susette Gontard steht zunächst die Elegiendichtung im Vordergrund. Hölderlin wird von einem tragischen Lebensgefühl ergriffen. Parallel zu den Homburger Fragmenten über Ästhetik und Poetologie nimmt die dichterische Selbstreflexion in Hölderlins lyrischen Arbeiten breiten Raum ein.

Hölderlins Spätlyrik (1800–1806)

Grenzgänger 2017

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Die Grenzgänger: Hölderlin
An Grenzen balancierend, Grenzen überschreitend - das gilt für die Band von Michael Zachcial, die sich selbst im Grenzbereich zwischen Folk, Rock, Blues und Kabarett angesiedelt sieht - wie für den Lyriker Friedrich Hölderlin. Eine Woche vor Hölderlins 250. Geburtstag im März 2020 erscheinen von den Grenzgängern neu vertonte Hölderlin-Gedichte. Der Zeitgenosse von Aufklärung und Revolution mutet topaktuell an; die Grenzgänger folgen schlitt und einfach der Forderung von Georg Herwegh aus dem Jahre 1839: “Eine glückliche Hand möge unserer Jugend die Zeugnisse deines Geistes sammeln, daß sie sich von neuem daran erbaue, wenn die dunkle Wolke der Gegenwart drückend über ihrem Haupte lastet! Wir haben soviel Zeit für das Unzeitgemäßeste, und bedenken uns wegen der Minute, die wir einem so himmlischen Genius weihen wollen?”

Schicksalslied | Zornige Sehnsucht | Hymne an die Freiheit | An die klugen Ratgeber | So kam ich unter die Deutschen | Lebenslauf | Die Ehrsucht | Blödigkeit | Hälfte des Lebens | Schwabenmädchen | Abendphantasie | Rousseau | Der Wanderer | Aussicht (Das letzte Gedicht im Turm)

Die Grenzgänger "Hölderlin", Eigenverlag, 2020

Die späten Hymnen haben Hölderlins Ruhm im 20. Jahrhundert begründet. Da viele von ihnen aus mehreren Bearbeitungsschichten bestehen, ist die Edition schwierig. Vorbild für Hölderlin ist Pindar, ein griechischer Lyriker aus dem 6./5. Jahrhundert v. u. Z., den Hölderlin im Jahre 1800 intensiv las. Die freien Rhythmen und den Strophenbau hat Hölderlin von ihm übernommen. Das zentrale Motiv Hölderlins ist durch die hymnische Gattungstradition vorgegeben. Es ist Aufgabe des Hymnus, die Epiphanie (Erscheinung) des Gottes zu rufen. Hölderlin will das Wesen des Göttlichen, dessen Verhältnis zum Wirklichen und zur Poesie verstehen. Das Absolute muss sich im Irdischen ausdrücken, da sich das Göttliche nicht selbst fühlt. Hölderlin wähnte sich nach der französischen Revolution in einer Zeit der Götterferne. Während der „heiligen Nacht“ (Brot und Wein, V. 123) sei es Aufgabe des Dichters, den Gedanken der Menschen an ein höheres Leben wachzuhalten.

Eine wichtige Rolle spielen die Halbgötter in Hölderlins Spätwerk, Dionysos, Herakles und Prometheus. Sie sind menschlich-göttliche Zwischenwesen, Vermittler von Gott und Mensch. Dionysos ist der Sohn des Zeus und der thebanischen Königstochter Semele (Wie wenn am Feiertage, V. 45–49). In Brot und Wein wandert der kulturstiftende Weingott Dionysos von Osten nach Westen. In Hesperien, dem Abendland, wird die griechische Kultur vollendet. Deutschland soll dabei eine wichtige Rolle zukommen (Gesang der Deutschen, Germanien).

Die Dichter sind Priester und Seher. Ihre Aufgabe ist ehrenvoll, aber gefährlich. Sie können der Versuchung erliegen, sich nicht mit dem irdischen Zeichen der Erscheinung zu begnügen, sondern Gott unmittelbar erfahren zu wollen. Die Strafe der Götter für diesen Frevel wird durch die Metapher des Feuers (Patmos, V. 89–93) ausgedrückt. Wer die Ungleichheit von Göttlichem und Menschlichem nicht dulden will, wird von den Göttern vernichtet. Wer das Göttliche mit dem Menschlichen vermischt, ist ein falscher Priester (Wie wenn am Feiertage, V. 70–73). Das Gegengewicht zum dichterischen Enthusiasmus Hölderlins bildet die Anerkennung der objektiven Ordnung der Welt.

Ein großer Teil der späten Lyrik Hölderlins ist von der geschichtlichen und mythischen Erinnerung getragen. Hölderlin geht in seiner Spätdichtung vom antik-zyklischen Denken, Geschichte als Wiederkehr des Gleichen zu begreifen, zum teleologischen Geschichtsmodell über (Friedensfeier, Der Einzige, Patmos). Die göttlichen Mächte der antiken und christlichen Welt, Herakles, Dionysos und Christus, vereinigen sich. Die Geschichte wird als Prozess der Vergeistigung begriffen. Die Hymne Friedensfeier betrachtet den Frieden von Lunéville, der den ersten Koalitionskrieg beendete, nicht primär als historisches Ereignis, sondern im Sinne des Chiliasmus, der ein Reich innerweltlicher Gerechtigkeit vor dem jüngsten Gericht voraussah.

In seiner späten Lyrik bestimmt Hölderlin das Verhältnis von griechischer und christlicher Religiosität neu. Dabei gewinnt das Christentum an Bedeutung. In Brot und Wein tritt Christus als letzter der antiken Halbgötter in Erscheinung. Der glanzvollen Göttergestalten der Antike, sichtbar an der Plastik, wird die christliche Innerlichkeit, die Vergeistigung des Äußeren, entgegengestellt. Dionysos wird als Friedens- und Heilsbringer Christus angenähert. Die synkretistischen Vorstellungen Hölderlins lassen einen eindeutigen Vorrang Christi gegenüber den griechischen Halbgöttern jedoch nicht erkennen. Andererseits erscheint Gott aber als „Vater der Erde“ (Der Einzige, 2. Fassung, V. 90). Am Ende des Geschichtsprozesses, der mit dem klassischen Griechenland begonnen hat, hebt sich auch das Christliche im Allgemeinen des Vaterländischen, d. h. einer säkularisierten Gesellschaft, auf.

In einigen Gedichten kündigt sich Hölderlins Krankheit an. Nach der Trennung von Susette Gontard wird Hölderlin von einem Gefühl der Heimatlosigkeit ergriffen. In Hölderlins Spätlyrik wird ein bedrohlicher Entgrenzungsdrang sichtbar (Mnemosyne, V. 13–17, 22–34). In Chiron widersetzt sich Hölderlin dieser Tendenz zum Ekstatischen und Selbstzerstörerischen.

Hoelderlin Express' Elke Rogge; photo by The Mollis

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Auch in formaler Hinsicht ist Hölderlins Spätdichtung durch extreme Widersprüche geprägt. Schmidt nennt als Merkmale „kühne Metaphorik und zugleich abstrakte Härte, glühende Bildfülle und schlichtes Sagen, weitgespannte, rhythmisch stark bewegte Großperioden und lapidare Kürze“. Schwer verständlich ist Hölderlins mythologisch und historisch aufgeladene Bildersprache. Der Ton seiner Hymnen ist feierlich, prophetisch und visionär. Hölderlins Dichtung strebt zum Göttlichen; seine Imagination überwindet, den Wanderungen des Dionysos vergleichbar, Länder und Meere.

Wirkung

Rezeption

Hölderlins Poesie, die heute unbestritten als ein Höhepunkt der deutschen und abendländischen Literatur gilt, war bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Ausgabe der 1826 erschienenen Gedichte immerhin unter Schriftstellern nicht unbekannt. Begeisterung erregte er unter den Anhängern der Heidelberger Romantik, besonders Clemens von Brentano und Achim von Arnim, die in einigen Ausgaben ihrer Zeitung für Einsiedler Hölderlins Gedichte abdruckten. Ersterer bekannte, dass Hölderlin „sein höchstes Ideal“ sei. Joseph Görres erinnerte 1804 in seiner Zeitschrift Aurora an den Dichter und lobte ein Jahr später den Roman Hyperion. Wilhelm Waiblinger, der Hölderlins Roman in seinem Phaeton nachahmte, verfasste 1827/28 die erste Biographie Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn.

Nach 1848 wurde sein lyrisches Werk aber weitgehend ignoriert; Hölderlin galt als junger romantischer Melancholiker und bloßer Nachahmer Schillers. Friedrich Nietzsche aber schätzte ihn hoch; Motive seiner Kritik an einem vereinseitigt apollinischen Bild der griechischen Kultur gehen auf Hölderlin zurück. Die große Nachwirkung im 20. Jahrhundert setzte mit Stefan George ein; die wissenschaftliche Erschließung begann im Jahr 1910 mit der Dissertation von Norbert von Hellingrath, in welcher der Stil des Hölderlinschen Spätwerks und die Eigenart seiner Übersetzungen aus Pindar erstmals in adäquater Weise beschrieben wurden. Abseits einer eher konservativen oder deutsch-nationalistischen Hölderlin-Rezeption haben sich auch dezidiert linke Leser mit dem Dichter beschäftigt. Dazu zählen neben Georg Lukács und Peter Weiss auch Anarchisten wie Gustav Landauer und Rudolf Rocker.

Hölderlin-Briefmarke

Obwohl Hölderlins hymnischer Stil in der deutschen Literatur einmalig geblieben ist, hat seine prägnante und häufig fragmentarische Lyrik tiefgehenden Einfluss auf die Poesie z. B. von George, Heym, Trakl, Celan, Bachmann und auf viele weitere – von jüngeren Autoren etwa Gerhard Falkner – ausgeübt.

Seine patriotischen Gedichte (etwa die Ode Der Tod fürs Vaterland) waren während der Zeit des Nationalsozialismus und der beiden Weltkriege besonders populär. Ihr freiheitlich-republikanischer Hintergrund wurde in dieser Zeit jedoch verschwiegen.

Hölderlins Übersetzungen der Dramen König Ödipus und Antigone von Sophokles fanden nach deren Erscheinen nur geringe, aber zum Teil begeisterte Aufnahme, so vor allem in Bettina von Arnims Buch Die Günderode, einem Werk über Karoline von Günderrode. Von der Seite der Philologen (vor allem von Heinrich Voß, dem Sohn von Johann Heinrich Voß) und auch von Schiller sind dagegen scharf ablehnende Äußerungen überliefert. Erst im 20. Jahrhundert wurde ihre Bedeutung als Modell einer poetischen Übersetzung erkannt (beispielsweise beruht Bertolt Brechts Bearbeitung der Antigone des Sophokles auf Hölderlins Übertragung), welche die Fremdheit des griechischen Textes sichtbar macht, anstatt sie zu eliminieren.

Hölderlins philosophische Bedeutung beruht auf seiner Kritik der Fichteschen Wissenschaftslehre und auf seinem Gegenentwurf, den er in der zweiseitigen Studie Urteil und Seyn niederlegte, die erst im Jahr 1961 veröffentlicht wurde. Auch die übrigen philosophischen und poetologischen Ausarbeitungen sind fragmentarisch und außerordentlich schwierig. Insbesondere Dieter Henrich hat in umfangreichen Studien Hölderlins philosophischen Ansatz herausgearbeitet und die Diskussionszusammenhänge beschrieben, in denen er sich ausbilden konnte. Hölderlins dominierende Rolle in der philosophischen Gemeinschaft mit Sinclair und Hegel in Frankfurt und Bad Homburg hat zur Ausbildung der Grundgedanken beigetragen, die Hegel schließlich zu seiner Philosophie des Geistes führten. Der gedankliche Gehalt des hymnischen Spätwerks wurde immer wieder zum Anlass philosophischer Auslegungen, so bei Martin Heidegger und – ablehnend gegenüber Heideggers Deutungen – bei Theodor W. Adorno.



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Date: February 2020.



Photo Credits: (1) Friedrich Hölderlin, Pastell von Franz Carl Hiemer, 1792, (2),(5) Hölderlin-Briefmarken, (3) Die Grenzgänger (unknown/website); (4) Hoelderlin Express (by The Mollis).


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