FolkWorld #52 11/2013
© Karsten Rube

Flucht ins Mittelalter

Corvus Corax: Neues Album "Gimlie" erscheint am 15. November!

Corvus Corax

Corvus Corax @ FolkWorld:
FW#8, #18, #22, #31, #47, #52

www.myspace.com | www.youtube.com

www.corvuscorax.de

Wenn man Diskussionssendungen und Internetforen liest, ist man erstens hinterher nicht schlauer und zweitens selbst schuld. In einem dieser Foren reagierte einst eine junge Frau auf den Satz "... das haben wir aus der Vergangenheit gelernt ..." mit der Ansage, dass sie grundsätzlich nie über Vergangenes rede. Sie lebe jetzt und nicht in der Vergangenheit. Vielleicht hat sie Flaubert gelesen, der sagte: "Die Zukunft beunruhigt uns - die Vergangenheit hält uns fest. Deshalb entgeht uns die Gegenwart."

Ich kenne allerdings auch das genaue Gegenteil. Studierte Historiker, aber auch Onlinegamer, die so tief in ihrer wissenschaftlich erkundeten bzw. kommerziell ersonnenen Historie leben, dass sie in der Gegenwart ohne Hilfe kaum lebensfähig wären. Wo findet sich also ein halbwegs gerade Weg, zwischen Vergangenheitsignoranz und Geschichtsgeilheit?

Einen Weg, Spaß in der Gegenwart mit dem Ausleben von Geschichte zu haben, findet die Berliner Mittelalterband Corvus Corax. Und das tut sie in verschiedenen Zusammenstellungen bereits seit 1989, besitzen also ebenfalls bereits eine beachtliche Vergangenheit.

Corvux Corax ist die wissenschaftliche Bezeichnung für den Kolkraben, ein Tier, das in der mittelalterlichen Literatur immer wieder eine Rolle spielt. Die Raben galten als Unglücksbringer, denn sie tauchten immer dort in Scharen auf, wo sich der Tod erfolgreich betätigte. Schlachtfelder waren ein Übel für die Menschen, aber ein Segen für die Raben.

Damit wären wir schon mitten drin in der Gegenwart des Treibens der Band Corvus Corax. Aktuell laufen die letzten Vorbereitungen für die Veröffentlichung ihrer neuen CD "Gimlie". Gimlie bezeichnet hier keinen Zwerg aus Tolkins Hobbitgeschichte, sondern das Paradies innerhalb der nordischen Mythologie. Diejenigen, die Ragnarök, den Untergang der Götter überstehen, landen in Gimlie, einem paradiesisch schönen Ort.

Drehleier XXL

Klingt nicht nach der düsteren Mittelaltermasche, die man von Corvus Corax kennt? Nun, mit dem Vorgängeralbum "Sverker", in dem sie sich tatsächlich dem Weltuntergang thematisch näherten, klopfte man noch ordentlich auf die Trommeln. "Gimlie" will dagegen etwas optimistischer, ja zukunftsorientierter erscheinen, wenn das bei einer historisch so hervorragend aufgestellten Musik möglich ist. Doch nicht überall soll auf der neuen CD eitel Sonnenschein herrschen, wie man im zweiten Teil von "Gimlie" hören wird. Dort spielt der Rabe endlich seine gewichtige Rolle und mit ihm das Festmahl auf dem Schlachtfeld.

Corvus Corax haben sich über die Jahre immer wieder mit historischen Themen auseinandergesetzt. Genaue Recherche und große Lernbereitschaft zeichnen die Musiker aus. Das heißt für die Mannen der Kapelle, Reisen, um zu lernen. Jahrelang zog Bernd Dobbrisch, der bei Corvus Corax die Instrumente baut, durch Europa um bei Musikern möglichst viel über das Handwerk zu lernen. Er baute Schalmeien, Dudelsäcke und fand im steinernen Tor der Kathedrale von Santiago de Compostella das Vorbild für die Gestaltung einer der größten Drehleiern der Welt.

Kantele XXL

Teile des Instrumentariums, das auf "Sverker" und nun auch auf "Gimlie" verwendet wird, bastelte er in einem kleinen Kellerraum, gleich neben dem Tonstudio. Das Studio selbst steht voll von diesen archaisch anmutenden Geräten, Schlagwerk, Dudelsäcke und Schalmeien, die Drehleier in XXL, einem Saiteninstrument, das an die finnische Kantele erinnert, aber im Aussehen etwas rabiater wirkt. Dazwischen eine Bassgitarre, die auch gern ins Mittelalter möchte. Deshalb trägt sie eine ranzige Perücke. Alles handgemacht - wahrscheinlich auch die Perücke.

Ob es die ist, die Karsten Liehm alias Castus Rabensang bei den Konzerten auf dem Kopf trägt, traue ich mich nicht zu fragen. Castus ist der geistige Kopf der Truppe. Er ist es, der sich intensiv in die Geschichte stürzt, alte Sprachen lernt, um die Lieder authentisch wirken zu lassen, in Bibliotheken taucht und mit Historikern konferiert, die ihm all das Hintergrundwissen vermitteln, das benötigt wird, damit die Geschichten, die Corvus Corax erzählen auch stimmig sind. Alt- und Mittelenglisch, Altnordisch und Altirisch, verschiedene keltische Dialekte verwendet Castus und wirkt beim Einsatz dieser kaum noch lebendigen Sprachen sicher.

Corvus Corax, Gimlie

Corvus Corax ist keine Truppe, die vergangenheitsverliebt im Gestern lebt. Das Abmischen des neuen Albums erledigen sie auf modernem Studioequipment weitgehend selbst, was den Vorteil hat, dass sie solange am Sound tüfteln können, wie sie wollen, ohne auf Tarifverträge von Tontechnikern und Praktikanten, achten zu müssen. Auch kann man so mehr Zeit darauf verwenden, an den Instrumenten zu feilen, die weiter perfektioniert werden wollen. Hier geht es nicht ohne die Technik der Jetztzeit. Und auch bei ihren Auftritten wissen sie, dass Authentizität eine Illusion ist, die keiner der Besucher in der ganzen Konsequenz erleben möchte. Der Grusel des "So könnte es sein, wenn ..." verfliegt schnell, wenn der Mittelaltermarkt nach Döner riecht, nach Bier schmeckt, das dem deutschen Reinheitsgebot entspricht, man politisch korrektes Veganerfood einfordern und man seine kompliziert gewirkte Mittelalterkluft im rettenden Häuschen der Firma Dixi öffnen kann.

Aber es bleibt ein Traum, für ein paar Stunden in der Vergangenheit nach Erholung für die Gegenwart zu suchen. Corvus Corax sind gut darin, diesen Traum musikalisch zu unterstützen und die Gegenwart damit zu bereichern. Das wird sicher auch wieder geschehen, wenn im November das neue Album "Gimlie" erscheint. Und wer nicht glauben will, dass die Mannen von Corvus Corax gestandene Helden der Gegenwart sind, der kann mal die Kapelle BerlinskiBeat, die mit Rumptata und Gassenhauern die Berliner Tanzszene aufmischt, ein bisschen genauer betrachten.[49]

Hier hängen die Musiker, die sonst als Corvus Corax entschlossen zum Mettrinken auffordern, ganz sicher nicht in der Vergangenheit fest, sondern tun alles, um möglichst nicht dort zu landen, wo der alte Meister Wilhelm Busch so manchen seiner Zeitgenossen sah: "Doch schmerzlich denkt manch alter Knaster, der von vergangnen Zeiten träumt, an die Gelegenheit zum Laster, die er versäumt."


Photo Credits: (1) Corvus Corax (by Holger Bücker (BuPix)); (2)-(3) Instrumente XXL (by Karsten Rube); (4) Corvus Corax 'Gimlie' Cover (by Corvus Corax); (5) BerlinskiBeat 'Gassenhauer' Cover (by BerlinskiBeat).


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