FolkWorld Ausgabe 42 07/2010; Live-Bericht von Walkin' T:-)M


Die Quetschenmusik trifft sich
Akkordeon Festival Wien, 20. Feb. - 22. März 2010

Akkordeonfestival Wien
Akkordeonfestival, Wenzel

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www.akkordeonfestival.at

Die österreichische Donaumetropole stand zum 11. Mal einen Monat lang im Zeichen des Akkordeons. Das Wiener Festival bot Quetschenmusik von Argentinien bis zum Balkan, wo immer auch Musikanten in die weiß-schwarzen Tasten greifen.

Es traten Lokalmatadore an: Otto Lechner (FW#32), 5/8erln in Ehr’n (#40), Dobrek Bistro (#28). Von weiter her reiste die kanadischen Klezmerband Beyond the Pale (#40) an. Beendet wurde das Festival von Ernst Molden (#40), und bei der Eröffnungsgala traf Lorin Sklamberg von den Klezmatics (#41) auf die irische Sängerin Susan McKeown (#29) und den Gitarristen Donogh Hennessy (ehemals Lunasa -> #37). Ihr Programm "Saints & Tzadiks" war eine unterhaltsame irisch-jiddische Mischpoke (#41).

Ich selbst hatte mir zwei von den vierzig Veranstaltungen ausgewählt. Zum ersten trug es mich in die Katholische Kirche am Gaußplatz im 2. Wiener Gemeindebezirk. An exakt dieser Stelle wurde 1439 die erste mehrteilige Brücke über die Donau und ihre Seitenarme errichtet. Heuer befindet man sich hier am Rande des Augartens, einer barocken Gartenanlage und Allen Menschen gewidmeter Erlustigungs-Ort von Ihrem Schaetzer Joseph II. für gestresste Großstädter.

Wenzel

Wenzel @ FolkWorld: FW #15,
#22, #26, #31, #34, #37, #38, #39

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Der Augarten beherbergt darüber hinaus die Wiener Sängerknaben, und ein ganz besonderer Sängerknabe mit lockigem Haar war aus dem Osten Deutschlands angereist und hatte darüber hinaus sein Akkordeon und eine Begleitband mitgebracht. Das waren das Leipziger Jazztrio Lunar3 (Gitarrist Andreas Wendland, Kontrabassist Franz Schwarznau, Schlagzeuger Richard Syhre) und die Berliner Elektropopperin Karla Wenzel, aka Kiki Bohemia.

Hans-Eckhard Wenzel, dessen Konterfei das Festivalplakat schmückt, macht in Wien eine gute Figur. Er ist kein Fremdkörper in dieser Stadt. Nun, seine Vorfahren stammen ja wohl aus dem österreichisch-ungarischem Raum und in Prag ist noch ein Platz nach seiner Familie benannt. (Dieser Witz stammt von Wenzel selbst.) Einst dichtete er sterben, aber sterben muss man in Wien. Auch dieses Lied erklingt am heutigen Abend, inmitten einer gelungenen Mischung aus alten und neuen Stücken. Darunter auch zwei Titel aus der Feder des niederösterreichischen Dichters Theodor Kramer (#33), über den Wenzel einst sein Staatsexamen verfasst hat.

Leider gab es nur ein Stück als Zugabe, dafür aber ein Vorprogramm. Wenzel hatte (nur) ein Lied aus seinem aktuellen Programm mit Vertonungen von Gedichten der österreichischen Dichterin Henriette Hein gespielt. Nach eigenen Worten sei dieser Liedzyklus an Schuberts "Winterreise" angelehnt, über den er noch seufzend bemerkt: Armut hat kein Sex-Appeal! Den gesamten 24 Gedichte umfassenden Liederzyklus von Franz Schubert hat Christian Bakanic für Akkordeon und Stimme adaptiert. ("Am Brunnen vor dem Tore" ist das bekannteste Stück.)

Die Strenge des Vortrags durch die klassisch ausgebildete Stimme Monika Holzmanns, so ganz im Gegensatz zu dem rauhen Organ Wenzels, wurde nur wenig durch das verspielte Akkordeon abgemildert. Es war aber auf jeden Fall das passende Programm für die Kirche am Gaußplatz. Im Gotteshaus war es etwas kühl und es lag an der Musik, für etwas Wärme zu sorgen. Positiv war jedoch die Akustik: das Innere ist mit Holz ausgeschlagen und die Kirche ist darum nicht so hallig wie Gebetshäuser unglücklicherweise zu sein pflegen.

Die Rio-Reiser

Rio Reiser @ FolkWorld: FW#41

Icon Sound @ www.myspace.com/dierioreiser

Wenn die Nacht am tiefsten ist ... Zum ersten Mal auf dem Wiener Akkordeon-Festival wurde in ausgewählten Lokalen in den Stadtbahnbögen unter der U-Bahn Linie 6 ein Nachtprogramm angeboten. Die "Gürtel Late Night Tour" sollte wohl mal ein anderes Publikum als die üblichen Verdächtigen erschließen. Eine gute Idee.

Im Rhiz an der Grenze zwischen Josefstadt (8. Bezirk) und Ottakring (16. Bezirk) hatte ich erst kürzlich die Nifty's gesehen (#39). Nun spielen hier Die Rio-Reiser: Überraschenderweise allesamt österreichische Musiker! Rio Reiser und Ton Steine Scherben in Wien? Geht das? Diese Musik ist doch ur-deutsch, um nicht zu sagen: ur-norddeutsch (#41).

Um es gleich vorwegzunehmen, es geht. Das Quintett spielt Scherbenlieder unplugged und vereint deren punkige Energie mit dem Wiener Schmäh. Der "Arbeitslosen-Reggae" klingt wie ein Heurigenlied, wo Rio Semmel statt Brötchen holen geht. Ansonsten erklingen Klassiker von "Der Traum ist aus" bis "Keine Macht für Niemand".

Den Gesang teilen sich Rainer Krispel und Mario Lang (ersterer auch Moderator bei zahlreichen Veranstaltunden des Akkordeon-Festivals). Hier hätte ich mir mehr erwartet, muss ich sagen, obwohl man ja auch von Rio selbst gesanglich nicht wirklich verwöhnt wurde. Die angenehme Überraschung ist die Band - Nifty's Michael Bruckner-Weinhuber an Akustikgitarre (#42), Walther Soyka am Akkordeon (#41), und Wolfgang Vincenz Wizlsperger vom Kollegium Kalksburg an Kontrabass und Tuba (#31) -, die für eine folkig-akustische Note sorgen, wie man sie in Zusammenhang mit den Scherben noch nicht gehört hat.

Um auf die Frage zurückzukommen, ob das geht? Es geht in allen urbanen Räumen, wo der Traum noch nicht ausgeträumt ist. Auf dem Nachhauseweg lese ich an einer Tramhaltestelle: Wer heut noch Hoffen macht, der lügt, doch wer die Hoffnung tötet, ist ein Schweinehund. Das ist von Wolf Biermann, aber erscheint mir ungeheuer passend.

Photo Credits: (1) Plakat Akkordeonfestival, (3) Die Rio-Reiser (from website); (2) Wenzel (by Walkin' Tom).


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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 07/2010

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