FolkWorld Ausgabe 40 11/2009; Artikel von Jens-Peter Müller


Anfangen zu wundern
Lettland-Reise, 7.-22. Juli 2009

Lettland und Norwegen, zwei Ziele, die (scheinbar) gegensätzlicher nicht sein können: Lettland, das ärmste Land der EU, gebeutelt von Wirtschafts- und Finanzkrise – Norwegen, das reichste Land Europas. Aber an diesen Gegensatz hatte ich bei meiner Reiseplanung nicht gedacht, auch nicht daran, dass sich diese beiden Ziele, wie sich herausstellte, hervorragend ergänzen würden.

Ausgangspunkt für die Reise nach Lettland ist der folkBALTICA-Länderschwerpunkt im nächsten Jahr, 21.-25. April 2010, das Festival „Baltica“ in Riga und die Tatsache, dass ich noch nie in Lettland war.

Festival Baltica, Riga

folkBALTICA @ FolkWorld: #33, #36, #38, #39

www.folkbaltica.de
Das Riddu Riddu Festival in der samischen Gemeinde Mandalen, 180km östlich von Tromsø, also hoch über dem Polarkreis, ist das wichtigste Festival für die Urbevölkerungen aus allen Kontinenten. Riddu Riddu bedeutet „kleiner Sturm an der Küste“. Mir ist das Festival seit langem durch die Berichte in der norwegischen Zeitschrift „Spelemansbladet“ bekannt, aber auch dort war ich noch nie. Es schien einfach mal Zeit zu sein, dorthin zu fahren. Dieses Gefühl war richtig und die Kombination Lettland und Sapmi (Lappland) genial.

Trotz der unterschiedlichen wirtschaftlichen Lage habe ich keinen krassen Gegensatz verspürt (von den Bierpreisen mal abgesehen). Gemeckert wird hüben wie drüben. In Lettland, weil zu wenig Geld für alles da ist, die Krise ein Resultat kurzsichtiger Wirtschaftpolitik ist und die Regierung an den falschen Stellen spart (Kultur, Bildung, Renten, Gesundheit). In Norwegen, weil das Geld manchmal uneffektiv oder gänzlich falsch eingesetzt wird (z.B. beim heiß diskutierten Ausbau der Öl- und Gasförderung an den Lofoten) und man sich in der Bildung von der Pisa-Hysterie hat anstecken lassen, den gleichen Evaluations- und Leistungsterror veranstaltet wie überall, dabei den Lehrern und Schülern die Schule verleidet und die ästhetischen Fächer, sowie die eigentlich in Norwegen vorbildliche Integration von behinderten Kindern vernachlässigt , bzw. erschwert. Aber, ob Reichtum oder Krise: die Kulturszene ist in beiden Ländern sehr lebendig und vermittelt eine ungemeine schöpferische Kraft.

Dennoch, die Lage in Lettland ist dramatisch. Mitte August titelte die taz „In Lettland gehen die Lichter aus“. Lehrer werden entlassen, 32 Krankenhäuser sollen geschlossen werden. Ärzte verlassen das Land. Beamte und Angestellte müssen Lohnkürzungen von 20-40% hinnehmen, 120 Musikschulen (von über 300!) im Land geschlossen. Die Renten werden um 50% gekürzt. Rentner können sich aufgrund des hohen Eigenanteils Krankenhausaufenthalte nicht mehr leisten. Und die EU greift bisher nicht stützend ein!

Am 7. Juli abends um 22.15 Uhr kam ich mit dem Flug aus Hamburg in Riga an. Zane Smite und Ivars Cinkuss, die Musikerin und der Musiker, die bei der diesjährigen folkBALTICA mit Kristine Karkle begeisterten, holten mich am Flughafen ab. Zane hatte mir vorweg einen detaillierten, vollgestopften Plan für meinen sechstägigen Aufenthalt in Lettland geschickt. Vorgesehen war darin nicht, dass ich auch Ivars treffen würde, der eigentlich als Dirigent an einem Projekt außerhalb von Riga arbeiten sollte. Aber dieses und ein anderes Projekt mussten aufgrund von Etatkürzungen abgesagt werden, so das Ivars plötzlich fast den ganzen Sommer frei hat. Ich kann mir diese Einschnitte gar nicht vorstellen und frage Ivars, wie er und die Leute damit umgehen. Klar sagt er, das sei schlimm und für die Zukunft Lettlands nicht besonders hoffnungserweckend, aber man habe 45 Jahre sowjetische Okkupation überstanden, das überstehe man auch.

Mehr als bei meinen Besuchen in Litauen und Estland wird mir hier in Lettland das Drama und das Leid durch die sowjetische Besetzung bewusst. Künstler, Intellektuelle, die in die sibirischen Lager verschleppt oder im Heimatland hingerichtet worden sind. Künstler, Freunde von Ivars und Zane, die in den 80er Jahren in die USA oder Kanada gegangen sind (in beiden Ländern gibt es große lettische Kulturtreffen!), die jetzt mit ihren Familien im Sommer Urlaub in Lettland machen. Die Sowjets haben massiv Russen in Lettland angesiedelt. 30% der Bevölkerung in Lettland ist heute russisch-stämmig. Ivars unterscheidet „Russen“ und „Sowjets“.
Ilgi

A Decade of Folk: Ilgi

Icon Sound / Icon Movie   @    www.ilgi.lv
www.myspace.com/ilgimusic

Weitere lettische Künstler @ FROG

Russen sind für ihn die Menschen, die ihre Sprache, aber auch Lettisch sprechen und an der lettischen Kultur teilnehmen. Der neue Bürgermeister von Riga z.B. ist russisch-stämmig. „Sowjets“ sind die, die sich weigern, lettisch zu sprechen und immer noch meinen, Lettland gehöre den Russen, da sie das Land von den deutschen Faschisten befreit hätten. Erst 1997, sechs Jahre nach der Unabhängigkeit ist der letzte russische Militärposten in Lettland aufgelöst worden. In der Altstadt von Riga, die zum Weltkulturerbe gehört, steht das Okkupationsmuseum, das ich leider nicht mehr besuchen konnte.

Riga vermittelt schon am Flughafen den Eindruck einer Metropole, belebter, mit etwa 750.000 Einwohnern (42.% Letten, 42% Russen) auch größer als Tallin und Vilnius. Zane und Ivars fahren mich auf dem Weg zum Hotel am Viertel mit den sagenhaft schönen Jugendstilhäusern vorbei, erbaut vom Architekten Michail Eisenstein (Vater des berühmten Filmregisseurs Sergej Eisenstein), die ich einige Tage später noch betrachten würde, und halten an ihrer Lieblingskneipe mit dem Interieur aus den 60er Jahren und seltenem lettischen Bier.

Am nächsten Tag geht es auf`s Land, Richtung Kap Kolka, wo die Wasser der Riga Bucht mit dem Baltischen Meer zusammentreffen, und in das Dorf Kosrags an der livländischen Küste. Besser hätte das Drehbuch für meinen Aufenthalt nicht geschrieben werden können. Zum einen liebe ich die Natur der baltischen und nordischen Länder und zum anderen geht es mir um die lettische Musikkultur, die sich über die Kenntnis vom Leben der lettischen Landbevölkerung erst richtig erschließt.

Wir übernachten im Gehöft mit uralter Rauchsauna, das Zanes Großvater gehörte. Jetzt wohnt dort die 79-jährige Tante, die ihr Essen noch auf einer alten „Küchenhexe“ zubereitet, und den großen zauberhaften Blumen- und Gemüsegarten pflegt. Zane meint, ihre Tante schaffe mit ihren 79-Jahren so viel, dass sie nur staunen und vor allem nicht mithalten könne. Sie erzählt mir, wie ihre Tante und ihre Großeltern als Jugendliche abends durch die Fenster schlüpften, um die Nacht bei einer Veranstaltung in einem der Dörfer durchzutanzen. Nach einer Stunde Schlaf ging es dann wieder an die Feldarbeit. Diese Energie und die Verbindung zum Leben und der Natur spüre sie in den kraftvollen Liedern der alten Frauen und seitdem sie die Sommer auf diesem Gehöft verbringe und an dem einfachen Leben teilhabe, könne sie die Volkslieder wirklich singen. Fragt sich, welche Zukunft diese Lieder in einer veränderten Gesellschaft haben, wie z.B. ihre Gesangstudentinnen diese Kraft erfahren können?

Zane spricht von Imagination, von dem Bewusstsein des naturverbundenen Lebens, und darüber, dass es immer ein gutes Zeichen ist, wenn sich ihre Studenten anfangen zu wundern. Denn dann zeigten sie Interesse an der Suche nach dem „tieferen Verständnis“ der Lieder, Symbole und Rituale. Ich wundere mich auch: über die 17-jährige Tochter von Zane, eine typisch „coole“ Jugendliche, die sich an die Türen Zettel mit Sätzen in der alten livländischen Sprache klebt, die nicht zu den baltischen , sondern den finno-ugrischen Sprachen gehört und nur noch von etwa 100 Menschen an der livländischen Küste gesprochen wird, die anfängt das alte Zitherinstrument Kokles zu spielen und stolz ist, eine Tracht zu haben. Ja, sagt sie, es sei ein ganz wichtiges Gefühl, zu einem kleinen Land dieser Erde zu gehören, das es mit seiner besonderen Kultur erstaunlicherweise immer noch gebe.

Ich wundere mich über die vielen anderen jungen Menschen beim Festival, die ebenfalls Trachten tragen, oder in Diskomanier auf feuchten Rasenflächen nimmermüde Volkstänze tanzen, deren Melodien und Schritte mir als Norddeutschem sehr vertraut vorkommen, über den Umzug zum Höhepunkt des Baltica-Festivals, bei dem Gruppen aus ganz Lettland mit ihren Trachten und Wimpeln der jeweiligen Region singend und tanzend durch Riga ziehen. Der Umzug ist so lang, dass es fast eine Stunde braucht bis alle vorbei sind.
Laima Jansone

Icon Sound @ myspace.com/laimajansone

Icon Movie @ www.youtube.com

Ach, sagt Ivars, das sei gar nichts. Beim großen Treffen der Chöre, das alle fünf Jahre stattfindet, komme man auf drei (!) Stunden. 14.000 Sängerinnen und Sänger bilden dann in einer riesigen Freilichtkuppel einen Chor. Ivars hat diesen Chor im vergangenen Jahr geleitet. Ivars und Zane sind bekannte Persönlichkeiten in Lettland. In den Künstlerkreisen kennt in diesem kleinen Land mit knapp 2,2 Millionen Einwohnern (und gefühlt ebenso vielen Störchen) eh sowieso jeder jeden.

Nach dem Umzug werde ich der ehemaligen lettischen Präsidentin Vaira Vike-Freiberga vorgestellt, mit der Zane gut befreundet ist. Sie spricht fließendes Deutsch, das sie als Kind im Flüchtlingslager in Herrenwyk bei Lübeck gelernt hat. 1997 kam Vaira Vike Freiberga aus dem Exil in Kanada zurück nach Lettland und war von 1999 bis 2007 Präsidentin Lettlands. Eine nochmalige Wiederwahl war laut lettischer Verfassung nicht zugelassen. Sie ist die Mutter der Nation, studierte Psychologin und Verfasserin der wichtigsten Abhandlung zur sagenhaften Sonnenmythologie in Lettland, deren Bedeutung, Zeichen und Symbole sich in der Kunst, im Kunsthandwerk, in der Dichtung und in zahllosen Volksliedern finden. Die Sonne wird das Leitmotiv der 6. folkBALTICA mit dem Länderschwerpunkt Lettland sein, es soll ein „Sonnenkonzert“ als Special geben, an dem u.a. auch samische/norwegische Joiksängerinnen, Musiker und eine samische Dichterin teilnehmen werden, die ich beim Riddu Riddu Festival gesehen habe und dabei die starken Parallelen zur Sonnenmythologie der Letten erleben konnte.

Man muss sich das noch einmal richtig vergegenwärtigen, eine Präsidentin als Volksmusikforscherin- und im übrigen auch Sängerin, von der es sogar eine CD gibt. Später sah ich Frau Vika-Freiberga dann wieder, wie sie bei der Gala des Baltica-Festivals in ihrer Tracht an das Rednerpult trat. Sie sprach erst auf Lettisch und dann auf Englisch, um auch den auswärtigen Besuchern zu vermitteln, wie wichtig in allen Zeiten und besonders in den gesellschaftlichen Lebenskrisen, die Wurzeln, oder wie die Psychologen sagen der „flow“, für jeden Menschen und die Gemeinschaft einer Nation sind. Sie spricht von Werten, die stärker als temporäre Krisen sind, und erinnert an die Geschichte der Baltica-Festivals, die schon 1987 in Litauen und 1988 in Lettland unter schwierigsten Bedingungen erstmalig stattfanden und Ausgangspunkt für die singende Revolution gewesen sind.

Während es in Estland mit dem Viljandi -Folkfestival eine große internationale Veranstaltung vergleichbar mit anderen europäischen Folk-Festivals gibt, auf denen zahlreiche estnische Gruppen einen modernen Folkbegriff präsentieren, muss man in Lettland nach Gruppen suchen, die die Tradition mit zeitgenössischen Elementen und Einflüssen aus anderen Musikbereichen verbinden. Aber es gibt sie. Diese Gruppen laufen unter dem Begriff „Postfolklore“. Auf den über 20 CDs, die ich mitgebracht habe, fand ich interessante Anregungen. Live habe ich mich beim Baltica –Festival von den Volksmusikstudentinnen begeistern lassen. Die Geigerin und Sängerin Kristine Karkle, die in diesem Jahr bei folkBALTICA war, ist eine von denen, die seit vier Jahre in Riga studieren können.
Valdis Muktupavels

www.music.lv/mukti/valdis.htm
Der Studiengang ist am musikwissenschaftlichen Institut angesiedelt. Das gibt den Studenten die Möglichkeit, sich auch mit vielen anderen Kulturen der Welt zu beschäftigen. Unterrichtet werden sie u.a. von Zane und von dem Tausendsassa Valdis Muktupavels, der neben dem Zitherinstrument Kokles auch alle möglichen Flöten spielt, Obertongesang beherrscht, und ein Komponist für unglaublich spannende neue E-Musik ist. Ihn werden wir bei der folkBALTICA 2010 erleben, zusammen mit seiner Schülerin Laima Jansone, die technisch so virtuos ist, dass selbst die Finnen ins Staunen geraten.

Eine weitere Schülerin von Valdis und Zane, Kristine Sibina, führte uns zu einem absolut abgefahrenen Event, wie man sie wohl nur so weit northeast findet. Mitten in einem riesigen Waldgebiet versammelten sich ca. 500 Menschen zur Abenddämmerung, um dem „Terpes“ zu huldigen. Terpes sind Flechten. Auf Tischen mitten im Wald standen große Mikroskope, mit denen man die unterschiedlichen Flechten unter fachkundiger Anleitung untersuchen konnte. Ein Moderator interviewte Wissenschaftler zu den Verwendungsmöglichkeiten und dem immensen Nutzen der Flechten (das Parfum Chanel 5 ist z.B. aus Flechte gemacht), immer wieder unterbrochen von einem schrägen Poeten. Dann bei Einbruch der Dunkelheit ein atmosphärisch einmaliges Konzert. Auf einzelnen Podesten standen die sieben Musiker, u.a. Valdis und seine Frau. Im Hintergrund zwischen den Bäumen Leinwände, auf denen Bilder von Flechten in stark vergrößerten Nahaufnahmen zu sehen waren. Kunst mit und in der Natur. Hintergrund und Finanzquelle für diese Projekte, die schon seit einigen Jahren im Sommer stattfinden, ist ein Programm der UN, das Wissenschaft und Kunst zusammenbringen soll.

Nach all diesen Eindrücken habe ich Lettland per Fähre Richtung Nord-Norwegen verlassen. Ich habe den langsamen Weg über Stockholm und dann mit dem Nachtzug über Narvik gewählt. Eine weise Entscheidung. Abstand finden und sich langsam auf etwas Neues hin bewegen. Auf neue musikalische, kulturelle Eindrücke, Naturphänomene und menschliche Begegnungen, die ich erst einmal nicht weiter aufschreibe- aber gerne mal erzähle. Bedanken möchte ich mich bei Zane und Ivars für die Vorbereitung und Begleitung meiner Reise. Ich freue mich auf ein Wiedersehen beim Festival folkbaltica 2010.

Der Reisebericht ist ursprünglich auf der folkBALTICA-Homepage erschienen.

Photo Credits: (1) Festival Baltica, Riga, (3) Laima Jansone, (4) Valdis Muktupavels (by Irbe Smite, Zane Smite und Ivars Cinkuss); (2) Ilgi (from website).


Zurück zum FolkWorld-Inhalt
Zur englischen FolkWorld

© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 11/2009

All material published in FolkWorld is © The Author via FolkWorld. Storage for private use is allowed and welcome. Reviews and extracts of up to 200 words may be freely quoted and reproduced, if source and author are acknowledged. For any other reproduction please ask the Editors for permission. Although any external links from FolkWorld are chosen with greatest care, FolkWorld and its editors do not take any responsibility for the content of the linked external websites.


FolkWorld - Home of European Music
FolkWorld Home
Layout & Idea of FolkWorld © The Mollis - Editors of FolkWorld