John McGrath hatte noch fünfzehn Minuten zu verspielen, als er die Kirchenglocken hörte, deshalb schlenderte er durch die engen Gassen, die zum Sonntagmorgengespenst von Dublins Obstmarkt führten. Dort blieb er wie immer eine Weile stehen, um eine Zigarette zu rauchen und zuzusehen, wie die alten Gestalten der Puböffnungszeit entgegenschlurften. Das war für ihn zu einem Sonntagmorgenritual geworden.
Du musstest natürlich rechtzeitig zur Session eintreffen. Wenn nicht, konnte dein Platz auf der Bühne von einem auswärtigen Musiker, einem Anfänger oder schlimmer noch einem Löffelspieler eingenommen werden. Die Schande, den Platz an jemanden zu verlieren, der mit Löffeln herumklapperte, war unvorstellbar.
John McGrath gehörte endlich dazu. Er war der Whistlespieler der Session, nachdem er sich ein Jahr lang aufgedrängt hatte. Dass einige von den anderen sich seit fünfzehn Jahren kannten, spielte für ihn keine Rolle, er fühlte sich jetzt als Teil von ihnen. Die Jahre hatten sie auch nicht älter werden lassen, überlegte er, als er daran dachte, wie er die anderen Musiker damals vom Publikum her beobachtet hatte. Die Mode hatte die Haare lang und wieder kurz werden lassen und ihre Farbe verändert, aber das hatte offenbar keine große Wirkung auf irgendeinen von ihnen gehabt.
Paddy Buckley hatte seine Wohnung in der Innenstadt gegen Mittag verlassen. Er war davon geweckt worden, dass der Wind durch das Loch im Fenster pfiff, und hatte festgestellt, dass er noch immer angezogen war und sich um eine Decke und vier Seiten der Zeitung von gestern gewickelt hatte. Sein Kissen lag neben dem Koffer seiner Uilleann Pipes auf dem Boden. Er war zur Zeit der Katzen zurückgekommen, als die grauen Enden des Morgens die fadenscheinigen Dächer seiner Straße sichtbar machten. Er war auf sein Bett zugefallen und hatte es gerade noch getroffen. Jetzt schlich er sich an den Mitgliedern der katholischen Temperenzler-Bewegung vorbei, die mit ihren Anti-Alkohol-Schildern an der Straßenecke standen. „Guten Morgen“, sagten sie zu ihm. Sein Schädel dröhnte und auf der einen Seite standen trotz aller Bemühungen seine Haare zu Berge.
Fast hatte die Sonne geschienen, als er sein Haus verlassen hatte, aber als er bei der Session ankam, war es windig und verregnet. In Gedanken verfluchte er „noch einen irischen Sommer“. Aber der würde vielleicht wenigstens seine blöden Haare glätten.
In den letzten sechs Monaten hatte er einmal fast alles richtig gemacht, und zwar am Mittwoch. Er hatte aus seinen schweren Augen durch die leeren Gläser und den Zigarettenrauch den Mittwoch gemustert, und da war sie, schwarze Haare, schwarzes Kleid. Sie gehört überhaupt nicht hierher, hatte er gedacht. Er sah wieder seine Uilleann Pipes an, aber das half nichts, sie war noch immer da, grüne Augen. Später an diesem Abend hatte sie ihm erzählt, dass sie irische Musik hasste und nur ihre Schwester begleitete. Aber aus irgendeinem Grund fragte er sie sofort, ob er sie wiedersehen könnte. Gestern aber war ein „irischer Abend“ für Touristen in einem Hotel gewesen, mit den üblichen irischen Tänzern, einem kahlköpfigen Komiker im Kilt, einem Sänger, der jede Nacht dreimal für Irland starb, einer Harfnerin namens Máire, die ihm die Hand aufs Knie legte und immer nach Knoblauch stank, ihm selbst und einem alten Geiger, der nur Tee trank. Aber es brachte 200 £, die Yanks bei Laune zu halten, und der Alk strömte nur so. Natürlich konnte er sie dorthin nicht mitnehmen, aber sie hatte Sonntagmorgen versprochen.
„Jesus, ich könnte kotzen wie ein Reiher“, sagte John Carmondy, als er mühsam vor dem Klirren der Gläser und dem Schrappen von Stühlen und Tischen seine Bouzouki stimmte. „Gib mal’n A mit deiner Whistle“, sagte er zu John McGrath, der neben der Bühne seinen Anorak zusammenlegte.
Paddy Buckley zog sich mit müden Bewegungen auf die Bühne. „Jesus“, sagte er. „Vier Jahreszeiten an einem Tag.“ - „Ja“, antwortete irgendwer. „Vivaldi goes Mikrowelle.“ Es hatte ein kleineres Drama gegeben. Ein Mann, der ein wenig ärger zitterte als sonst, war zum illegalen Rauchen auf die Toilette gegangen und statt ins Klo war ihm die Kippe in die Hose gefallen, zur maßlosen Erheiterung eines amerikanischen Touristen, der diese Geschichte jetzt in allen Details seinen Freunden erzählte.
„Du siehst so aus, wie ich mich fühle“, sagte Carmondy, als Paddy seine Pipes umschnallte. „Ja“, erwiderte der. „Amerikanisches Kabarett. Yanks. Aber du wirst es nicht glauben, am Ende des Abends tanzen wir mit dem Publikum. Wir sollen uns an die Alten halten. Aber egal, ich bin schon halb breit, also stehe ich auf und steuere eine alte Dame mit Halbmondbrille an, als eine junge vor mir aufspringt und sagt, kann ich bitte mit dir tanzen. Ich hatte nichts dagegen, also gibts diesen irren Tanz, und meistens drehen sie die für den letzten Tanz die Lichter an und setzen Spotlights ein. Also, als wir uns gerade gegenseitig rumschwenken sollen, versucht sie, mir eine reinzuhauen. Ich konnte sie auch nicht loslassen, sonst wäre einer von uns durch das Fenster geflogen. Und als das Licht anging, sah ich, was los war, ihr hing die Unterhose um die Knöchel. Ich wäre fast zusammengebrochen. Sie sagt gelassen, tut mir leid, danke, zieht die Unterhose hoch, während alles sich bepisst vor Lachen und geht zurück zu ihrem Sitz.“
Der so genannte Einsatz dieses Morgens begann, unsicher zunächst und leicht verstimmt, endlich aber fielen sie in ihren üblichen beruhigenden Rhythmus. Die zweite Getränkerunde war gebracht und die Bar plötzlich voll geworden. John Carmondy musterte sein zweites großes Guinness nachdenklich und bedauerte zugleich die Tatsache, dass er kein Frühstück im Leib hatte. John Dowdall, ein Bodhrán-Spieler, nach dessen Alter niemand zu fragen wagte und der nur Lucozade trank, war bereit zum ersten Lied des Morgens, witzig für die, die es nicht kannten, vertraut denen auf der Bühne. Für die Musiker brachte es eine willkommene Atempause.
„Dann fraßen sie mit großer Müh, sagt Darby, so ein zähes Vieh,
sagt Paddy, mal ganz brav, Mann, das ist ein feines Schaf, Mann,
doch Brian McGurk mit seiner Gabel spießt auf nen gelblich weißen Knopf, sagt: Fett ist das nicht und schüttelt den Kopf,
Und Darby schreit los: Bei Gott, da schieb ich ihm doch fast
die Zähne in den Nabel.“
John McGrath lieferte John Carmondy einen Überblick über seine Woche. Du konntest McGrath manchmal um Zigaretten und das Busgeld anhauen, dachte Carmondy. Aber es gab eine Art, Geschichten zu erzählen, die Buckley und einige andere beherrschten, und die dich zum Lachen brachte, auch wenn die Geschichten belanglos waren. McGraths Geschichten dagegen drehten sich alle um seinen Job und um Kneipen, die sonst kein Mensch aufsuchte, und sie hatten rein gar nichts mit der Session-Gruppe zu tun, aber manchmal konntest du ihn eben um Zigaretten und das Busgeld anhauen.
„Bitte sehr, Carmondy. Das war ich dir schuldig.“ Buckley riss ihn aus seinen Gedanken und reichte ihm 20 £. „Cheers“, sagte er. „McGrath legt wieder los.“
„Ja, der würde dir noch die Hose vom Leib wegöden“, sagte Buckley. „Seine Freundin kommt nachher auch noch. Ich weiß jetzt, warum sie immer blinzelt, wenn sie mit einem redet, ihre Kontaktlinsen sitzen nicht richtig. Mir tränen die Augen, wenn sie mich anspricht, und mein Kopf wackelt hin und her.“
„Sie hat mir erzählt, dass ihr Vater bei der CIA war“, sagte Carmondy. „Und als sie alt genug war, um das zu kapieren, wollte sie nicht mehr mit ihm reden. Sie sagt, sie hasst alles, was mit Faschismus zu tun hat. Natürlich schickt er ihr jeden Monat einen Tausender, damit sie den Faschismus in Ruhe hassen kann. Witzige alte Welt, was? O verdammt, jetzt ist dein Solo an der Reihe.“
Paddy stimmte seine Pipes und Carmondy ließ sich zurücksinken und musterte das Publikum. Sein Blick wanderte zu seinem Mantel weiter, der als zerknüllter Haufen neben der Bühne lag. Seltsam, wie dieser schwarze Mantel seine Persönlichkeit angenommen hatte. Er hing nicht mehr ihrer grünen Küche gegenüber, sondern war jetzt ein zerknüllter Haufen in seinem eigenen Leben, neben der Bühne. Es war drei Monate her, am Freitag hatte sie Geburtstag. Aber du wagst nicht, zu verraten, dass du jemanden vermisst. McGrath und Miss CIA schienen die perfekte Beziehung zu haben. Sie las Bücher und er redete über seinen Job und von Montag bis Freitag gingen sie in Kneipen, die sonst kein Mensch je betrat.
Dann kam das wunderschöne Klirren eines fallenden Glases, das nicht dein eigenes ist. Sondern das der Frau des Amerikaners, der sich so wahnsinnig über die Zigarettenepisode gefreut hatte. Das Publikum jubelte und Paddy spielte weiter und achtete auf nichts.
McGrath brüllte Carmondy an, der sich an seinem Whisky fast verschluckte, den das alles aber kein bisschen interessierte. John McGrath nun wieder machte sich über etwas ganz anderes Gedanken. Alle wussten, dass Carmondy vier Whiskeys kippte, ehe er auf die Bühne stieg. Alle wussten, dass er die Kneipe abends nie verließ, ohne „Vorrat“ mit nach Hause zu nehmen, aber niemand sagte etwas. Sie kommentierten es nicht, vielleicht wussten sie, er würde es überstehen, weil es den meisten von ihnen auch schon einmal so gegangen war. Sie machte ihm Angst, diese Härte. Manchmal war Carmondy bei Kneipenschluss schon bewusstlos und mußte einfach dort hinterlassen werden. Aber wenn ein Außenstehender sich einen Witz darüber erlaubte, schlossen die Ränge sich und dem Betroffenen wurde deutlich gemacht, wohin er sich scheren sollte. Carmondy sei Carmondy, sagten sie, voller irrer schräger Sprüche mit der wunderbaren Fähigkeit, einen Widersacher in seine Bestandteile zu erlegen. „Der redet in Quadraten und Halbkreisen“, wie Paddy das ausdrückte, aber nur wenige wollten zum Objekt dieser Sprüche werden.
Der alte Joe, der Bodhránspieler, kämpfte sich hinter Paddys Solo her. Die Anzahl der Musiker war auf vierzehn angewachsen. Der alte Joe hatte drei Gründe für seinen Ruhm. Der erste war, dass er kaum je etwas sagte und allen den Eindruck vermittelte, er sei ein tiefer Denker, nur wenige wussten, dass er fast total taub war, was vermutlich seinen Mangel an Reaktion erklärte, als Carmondy meinte, er habe ein Ohr für Musik wie van Gogh. Der zweite war, dass er einige Jahre zuvor für einen Bruder in Leitrim eine Bustour übernommen hatte. Eines Tages hatte er eine Gruppe englischer Touristen herumkutschieren müssen. Seine kurzen historischen Kommentare hatten seinen Fahrgästen gar nicht gefallen. „Auf dieser Wiese haben die Iren die Briten 1594 geschlagen, und auf jener Wiese haben wir die Briten 1620 geschlagen und dort schließlich 1730.“ Ein freundlicher Engländer meinte: „Aber die Engländer müssen doch wenigstens eine Schlacht gewonnen haben.“ - „Nein, in meinem Scheißbus nicht“, sagte Joe. Der dritte Grund für seinen Ruhm war, dass er auf dem Hintern des Standbildes für den großen irischen Patrioten Wolfe Tone in Süd-Dublin ein Vogelnest entdeckt hatte. Das gab Anlass zu Fragen, vor allem, wieso er einem Standbild auf den Hintern schaute. Carmondy hatte das als „reichlich scheelen Patriotismus“ bezeichnet. Paddys Solo endete, Joe legte die Bodhrán hin und trank seine Lucozade mit der Miene eines Menschen, der einem Sonntagmorgen einen großen Dienst erwiesen hat.
Um zwanzig nach eins war die Bar schwarz vor Menschen. Kinder rannten hinter anderen Kindern her, Väter tranken vor dem Mittagessen einen, Mütter behielten Vater und Kind im Auge. Die Musik wurde schneller, als die Finger wieder zuverlässig wurden und einige im Publikum den Takt klatschten. Ein Tourist machte Nahaufnahmen von Pipes und Bodhrán, Joe setzte sich gerade und schob sein Kinn vor, Paddy starrte ausdruckslos die Tür an und ließ seine Finger die Sache erledigen. Drinks wurden gebracht, leere Gläser entfernt.
Zwanzig nach eins, dachte Paddy. Na, das war’s, dann kommt sie nicht mehr. 1979, als er neu in Dublin gewesen war, als das Geld noch locker gesessen hatte und Frauen glaubten, man habe eine Zukunft, war es in Ordnung gewesen. Dann war alles ausgetrocknet und alle mussten sparen und statt für Geld spieltest du für die Getränke. Du spieltest Scheiß für Amis, um die Miete bezahlen zu können, und vom Arbeitslosengeld und einem Gig ab und zu konntest du den Kopf über Wasser halten. Du konntest eine Frau aus einem Foto zaubern, aber am Ende war es immer dasselbe, du warst der Frau zu teuer und ihr trenntet euch in aller Freundschaft. Ende der Geschichte.
Inzwischen hatte Joe sich das Mikro geschnappt, um „Kelly the Boy from Killane“ zu singen, zum Stöhnen und Kichern der anderen. „Weißt du Paddy“, sagte Carmondy, „wenn Joe fürs Singen gehängt würde, dann würde er unschuldig sterben. Irgendwas los, Kumpel?“
„Nichts, bin nur todmüde.“
John McGrath wusste, dass ihm das alles fehlen würde, sogar der alte Joe. Es würde seltsam sein, in Amerika zu leben. Er würde eine Weile brauchen, um sich daran zu gewöhnen. Aber ein Job mit guten Aussichten und eine reiche Schwiegerfamilie waren nicht zu verachten, und es gab da schon eine gute irische Sessionmannschaft, er kannte viele von ihnen. Und es würde dadurch noch viel schöner werden, in den Ferien ab und zu an einem Sonntag herzukommen.
Auf der Bühne wurden bereits Pläne für den Abend gemacht, damit die, die zum Essen nach Hause gingen, sich mit denen treffen könnten, die einfach einen Hamburger einwarfen. An der Bar hatte sich eine lange Schlange gebildet und die Musik war vergessen. Joe hatte seine Bodhrán schon eingepackt, und seine Frau, ohne ihn anzusehen, zog ihren braunen Mantel an. Die Tresenleute wurden heroisch und bahnten sich ihren Weg, um nach leeren Gläsern Ausschau zu halten.
„Danke dafür, dass ihr heute Morgen gekommen seid. Bis nächste Woche dann.“ Eine sehr dünne Amerikanerin mit einer Brille suchte sich schüchtern einen Weg zu Joe und bat ihn, eine Postkarte zu signieren. John McGrath schüttelte seinen Anorak aus und fragte, wo die Abendsession stattfinden würde.
„Telefon für Paddy Buckley“, rief ein Barmann.
„Wenn das eine Frau ist, dann bin ich hier“, sagte Paddy, strich sich die Haare glatt und drängte sich an Carmondy vorbei.
John McGrath war jetzt fast zu Hause. Er ließ sich Zeit, davon hatte er genug. Er machte sich jedoch Sorgen um seine Finanzlage. Sie gaben freitags- und samstagsabends zuviel aus, darauf würde er achten müssen. Aber sie könnten montags und dienstags doch zu Hause bleiben, und jetzt stand ein guter Sonntagabend in Aussicht. Die anderen würden sicher noch eine Weile an der Bar herumlungern, bevor sie langsam auseinander gingen. Carmondy würde sich etwas zum Essen mit nach Hause nehmen.
Es war eine seltsame Vorstellung, dass er das alles in nur zwei Monaten verlassen würde. Er hatte das noch niemandem beim Job und schon gar keinem von den Musikern erzählt. Es würde einige Überraschungen geben - eine Abschiedsparty vielleicht. Aber man musste weiterkommen, nichts dauerte ewig.
Der nächste Tag war Montag, dann würde die Welt wieder anfangen. Paddy würde aus seiner Wohnung auf einen alten Hinterhof hinausschauen. Carmondy würde im Pub mit den frühen Öffnungszeiten zwischen einem ehemaligen Polizisten und einem Boris Jelzin-Doppelgänger seine Gläser leeren. Joe, der als Tiefseetaucher viele Jahre zuvor taub geworden war, würde in seinem kleinen Schreibwarenladen sitzen, während seine Frau Tee kochte.
Aber an diesem Sonntag kaufte John McGrath sich Zigaretten und kam sofort zu der Erkenntnis, dass er zuviel rauchte. Musikkneipen spuckten noch immer ihre Kundschaft aus, Leute standen mit Zeitungen unter dem Arm auf der Straße herum. Es war erstaunlich, wie die ganze Woche sich zu anderthalb Stunden an einem Sonntagmorgen zu verdichten schien, wo du einfach deine Freunde trafst. Vielleicht war es besser, dir das alles aus dem Publikum heraus anzusehen. Und jedenfalls kannte er die anderen jetzt so gut, wie er sie jemals kennen würde. Zeit, weiterzukommen.