FolkWorld #44 03/2011
© Karsten Rube

Leidenschaft ohne Schwermut

Raúl Paz - Lido, Berlin, November 2010.

Berlin-Kreuzberg. Cuvrystraße. Abends. Frost beißt in Wangen und Nase. Ich stehe vor einem Betonkasten ohne Eingangstür an der Straßenfront. "Lido" heißt der Kasten und die Leuchtschrift kündigt den Konzertakt des Abends an. Raúl Paz aus Kuba soll hier in einer knappen halben Stunde spielen. Die Straße ist leer. Es strömen keine Leute zu diesem Konzert und der Eingang ist auch nicht zu finden. Gezieltes Suchen lässt mich auf eine Eisentür stoßen, die sich an der Seite des Betonkastens befindet. Sieht wie ein Lieferanteneingang aus, scheint aber der Einzige zu sein. Tatsächlich geht die Tür auf und ich trete in eine kleine schäbige Kassenhalle. Ein Zimmerchen eher, mit Theaterkassenverschlag. Gebaut als Kino, genutzt als Tanzschuppen und Probebühne, schlief es ein paar Jahre den Schlaf des allmählichen Verfalls. Ohne allzu aufwendige Verschönerungsarbeiten wurde es zum Konzertwohnzimmer am Rande Kreuzbergs.

Raúl Paz

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Im Innern des großen Saales sitzen am Rande des Parketts ein paar Menschen. Voll ist es nicht eine halbe Stunde vor offiziellem Konzertbeginn. Aber Konzerte beginnen nie pünktlich, denke ich und mache mich mit einem Bier, das ich an einer Bar am Ende des Saales bekomme, daran, ein bisschen Zeit totzuschlagen. Ich habe gehört, dass es hier gelegentlich zu sehr langen und ausschweifenden Tanzpartys kommt. Mit einem frühen Beginn ist also nicht zu rechnen.

Auf der anderen Seite des Saales befindet sich die Bühne. Nicht sehr groß, dafür vollgestopft mit Instrumenten und auf dem besten Wege im Dunst einer schwer arbeitenden Nebelmaschine zu verschwinden.

Überraschenderweise kommen kurz nach halb neun ein paar Musiker auf die Bühne, grinsen, setzen die Posaune an den Mund oder hängen sich die Gitarre um und kündigen Raúl Paz an. Damit konnte ja keiner rechnen. Der Laden ist gerade mal halb voll. Für das einzige Konzert des Kubaners in Deutschland in diesem Herbst hätte ich mit mehr Publikum gerechnet. Immerhin füllt der Mann in Lateinamerika größere Säle. In Deutschland wird er allerdings seit dem Hinscheiden von Radio Multikulti im öffentlichen Radio so gut wie nicht gespielt.

Raúl Paz ist ein kleiner, bestimmt nicht zu Magersucht neigender Lockenkopf. Ein testosteron-strotzendes Alphatierchen, keine weich gespülte Frauenversteherheulsuse wie beispielsweise Juanes, sondern eher der Tom Jones des Latin-Pop. Lederjacke, olle Jeans, Turnschuhe. Paz und Band brauchen drei Songs, um sich mit dem Publikum anzufreunden, dann platzt der Knoten und die Stimmung ist ausgelassen. Keiner der Musiker macht auf cooler Profi. Nein, alle bis hin zum Tontechniker haben großen Spaß. Da sitzt eben nicht jeder Ton perfekt, der Techniker muss ab und zu auf die Bühne, um ein lockeres Kabel auszutauschen oder den eigensinnigen Mikrofonständer mit Tape zu beruhigen. Er bleibt dabei auch mal ein halbes Lied lang tanzend auf der Bühne oder serviert dem Sänger ein Getränk, das verdächtig nach Cola aussieht, aber aufgrund der Kühlkiste, aus der der Drink gezaubert wurde, das Reinheitsgebot für alkoholfreie Getränke nicht hundertprozentig erfüllt.

Paz' Musik ist durchgängig tanzbar und dem Publikum bekannt. Viele singen mit. Stillstehen tun nur die absoluten Nichttänzer und das sind an diesem Abend erfreulich wenig. Vor der Bühne tanzt eine junge Fotografin mit zwei schweren Kameras. Es ist Vorweihnachtszeit und sie trägt eine große Geschenkschleife unter der Brust.

Raúl Paz

Raúl Paz stellt bei dem Konzert besonders die Lieder seiner neuen CD "Havanization" vor. Nachdem er ein paar Jahre in Paris gelebt hat, kehrte er nach Kuba zurück und nahm eine Platte auf, die von dem neuen Lebensgefühl der Kubaner erzählt, von einem neuen Selbstbewusstsein geprägt ist, das Kuba zum Ende der Castrozeit ergreift. Dabei wird Paz aber nicht zum politischen Agitator, sondern nimmt sich das Alltagsleben vor. Alle Geschichten auf dem Album passieren unmittelbar. Ob im fröhlichen "Carnaval", das er mit der quietschfidelen französischen Sängerin Camille eingespielt hat, oder in "Mejor", in dem er mit fröhlicher Stimmung und beinahe zuckersüßer Melodie seine Freundin rausschmeißt. Kein Song, der nicht von einer Heiterkeit ist, der er eine Messerspitze Schmalz und eine kleine Portion Sentimentalität hinzugefügt hätte. Leidenschaft ohne Schwermut.

Raúl Paz spricht kein Deutsch. Er spricht auch kein Englisch. Also sabbelt er fröhlich auf Spanisch los und wird von einem ordentlichen Teil des Publikums verstanden. Zumindest scheint es so, denn bei den Worten Kuba und Havanna wird immer zustimmend gejohlt. Und wer sein Spanisch nicht versteht, reagiert trotzdem. Besonders in der ersten Reihe. Raúl Paz spanisches "S" ist ausdrucksstark und treffsicher.

Obwohl der Saal nicht voll ist, wird es immer heißer. Es riecht, wie es auf engen Tanzflächen eben riecht. Der Nebel lässt die Bühne in diffusem Licht erscheinen. Paz dirigiert sein Publikum wie ein Zampano, lässt es in die Luft greifen, befiehlt es einige Schritte von der Bühne weg, um es dann wieder näher heranzuziehen. Er hält seine Fans an der Leine, was ich bei aller Sympathie für gute Bühnenshows immer ein wenig erschreckend finde. Raúl Paz könnte auch in Deutschland große Open-Air-Konzerte bestreiten und ein Publikum zum Zerstampfen des Rasens bewegen. Beispielsweise abends im Heinepark beim Tanz- und Folkfest in Rudolstadt. Dort haben besonders die lateinamerikanischen Musiker in den letzten Jahren immer wieder das Publikum zum Kochen gebracht. Warum nicht auch er?

In dieser Stimmung - laut und euphorisch - lässt sich Raúl Paz und seine Band zur ersten Zugabe bewegen, als sich plötzlich ein Rastazopf tragender Mann durchs Publikum drängelt, einen Koffer auf die Bühne wirft und selbst hinauf hüpft. Es ist der Saxofonist der Band, der sich für seine geringfügige Verspätung entschuldigt und sofort losbläst, als wolle er die vergangenen 100 Minuten nachholen. Ein wenig zerstört er damit die Harmonie der nun folgenden letzten Songs des Abends. Paz lässt einen Liederwunsch zu und schließlich singt man noch gemeinsam "Carnaval" und natürlich "Revolucion", seinen großen Hit. Unter ehrlichem Dank verlassen die Musiker die Bühne und verziehen sich von Bravorufen begleitet Richtung Backstage.

Das Publikum taucht mit kubanischer Sonne im Herzen und von Schweiß dampfend aus dem nun als sympathisch verranzt wirkenden Lido heraus und in die frostige Berliner Nacht ab.

Photo Credits: (1)-(2) Raúl Paz (from website).


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