FolkWorld-Kolumne von Walkin' T:-)M:


T:-)M's Nachtwache

T:-)M hat wieder den Blues

Carl Spitzweg ,Der arme Poet', www.spitzweg.de Ein poetisches Gesangsstück, leicht swingend gespielt, meistens in zwölf Takten nach dem Schema AAB. Die harmonische Struktur verläuft gewöhnlich wie folgt: Tonika, Subdominante, Dominante, Tonika. Die blue notes vermindern die Terz, die Septime, sogar die Quinte der Grund-Durtonleiter um einen halben Ton. Das Instrument führt die menschliche Stime fort oder imitiert sie.
Besser: The Blues ain't nothing but a good man feeling bad. (G. Herzhaft)

Das ist schlicht und ergreifend der Blues - jedenfalls formal betrachtet. Das meint auch Carl-Ludwig Reichert in Blues - Geschichte und Geschichten: Rein musikalisch gesehen, ist der Blues zunächst geradezu simpel und schematisch, das macht es so schwierig, ihn einfallsreich zu spielen. Dazu ist im Grunde eine erhebliche Virtuosität innerhalb des Genres nötig. Und im Grunde geht es sowieso gar nicht darum: Der Blues ist viel mehr als einfach nur ein Musikstil. Man hat ihn. Hat ihn auch der Europäer und der Deutsche im speziellen?

Die Rezeption dieser Musik war zur Zeit ihres Entstehens in Deutschland kaum möglich. Die Race Records wurden nicht exportiert, alles Weitere verhinderte die Nazi-Barbarei. Deshalb ist bei uns die Vorstellung vom Blues immer noch stark geprägt von den Blues-Interpreten der Nachkriegszeit, insbesondere vom Chicago-Blues und von der amerikanischen Folksong-Bewegung um Pete Seeger [-> FW#20, FW#21, FW#26], die eine purisische, dem Kunstlied zuneigende Interpretation traditioneller Songs für besonders authentisch hielt. Auch der Rhythm & Blues wurde hierzulande fast ausgelassen, dem Dixieland-Revival folgte gleich der Rock'n'Roll eines Elvis Presley und des abtrünnigen Bluesers Chuck Berry, der es auf kleine weisse Mädels abgesehen hatte. So stand einer akademisch-idealistisch-puristischen Jazz-Gemeinde europaweit ein kleines, ebenfalls zu jedweder Dogmatik neigendes Häuflein von Blues-Enthusiasten gegenüber, da erhebliche Informations-Defizite aufwies.
Reicherts Blues-Geschichte ist nicht unbedingt ein Aufklärungsbuch, aber es gelingt ihm, Akzente anders zu setzen als bisher üblich. Blues - Geschichte und Geschichten In den Anfangstagen muss der Blues etwa so trübsinnig gewesen sein wie beispielsweise der Tango. Jedenfalls wenn man einer Beobachtung des Musikethnologen Alan Lomax Sr. Glauben schenken darf:
Die Paare kleben aneinander, Bauch an Bauch, Lende an Lende und simulierten den Sexualakt, so gut es ihre vertikale Position, ihre Kleidung und die Leute um sie herum eben zuließen. Langsam, mit gebeugten Knien und mit der ganzen Schuhsohle flach auf dem Boden schoben sie ihre Füße über die Tanzfläche und betonten dabei den Off-Beat, dass das ganze Haus vibrierte wie eine Trommel.
Lomax, so heisst es, habe sich geniert, seiner Frau davon zu erzählen, als er 1902 zum ersten Mal den slow drag durch das Astloch einer Bretterbude hatte heimlich beobachten dürfen. Aber der Reihe nach. Die Geschichte des Blues (nach Reichert) hier in Kurzform:

Ab 1600: die ersten schwarzen Sklaven werden verschifft, Musik und Tanz sind geduldetes Ventil; 1831: der erste Sklavenaufstand; 1843: die erste öffentliche Minstrel-Show, weisse Schauspieler stellen Schwarze dar; 1852: Harriet Beecher-Stows "Uncle Tom's Cabin" leitet eine Bewusstseinsveränderung ein; 1861-65: Bürgerkrieg, der mit der Abschaffung der Slaverei endet; 1866: Gründung des Ku-Klux-Klans und des ersten weltberühmten schwarzen Chores, die Fisk Jubilee Singers; 1867: die erste Sammlung von Spirituals "Slave Songs of the United States"; 1890: schriftliche Aufzeichnungen blues-ähnlicher Texte; die Steel-Guitar wird erfunden und 1898 durch den Beitritt Hawaiis zu den USA popularisiert; 1899: Scott Joplins Ragtime; 1902: Plattenaufnahmen des Dinwiddle Colored Quartet; 1905: die Jug-Bands tauchen auf, mit einem Tonkrug, der angeblasen wird und tuba-artige Bass-Töne produziert; 1912: W.C. Handys Kompositionen machen Blues zu einem stehenden Begriff; 1920: das Frauenwahlrecht wird eingeführt, der Erfolg der allerersten Blues-Aufnahme, Mamie Smiths "Crazy Blues", leitet die Einführung der Race Records ein, Schallplatten speziell für die schwarze Bevölkerung; 1924: Ed Andrews' "Barrelhouse Blues" ist die erste stilistisch saubere Blues-Aufnahme; und

während in Deutschland Nazis marschierten und der kulturelle Austausch mit den USA bis auf Coca-Cola und die Schriften des Antisemiten und Rassisten Ford [-> FW#22], den Hitler bewunderte, auf Jahrzehnte hinaus total abbrach, entwickelte sich der Blues rasch weiter.
1938: der weisse Gitarrist George Barnes spielt elektrisch verstärkt; John Lee Sonny Boy Williamson I macht das einfache Spielzeug aus Deutschland, die Blues-Harp, zum charakteristischen Solo-Instrument; 1948: Muddy Waters (-> FW#25) elektrisiert den Blues in Chikago; es folgt das Blues-Revival, die Blues-Globalisierung, uswusf.

Reichert schreibt mit viel Realitätssinn und unideologisch, was zwar auch nicht immer gelingt, und hier schreibt jemand, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Er gibt den guten Rat:

Blues ist eine Charakterfrage. Zu brave, zu bürgerliche, zu akademische Musiker sollten lieber gleich die Finger davon lassen. Konformisten gehören ins Symphonie-Orchester, Hochleistungssportler in eine Rock-Arena, Tüftler ins Studio, Sammler auf die Flohmärkte, Experten ins Museum, Leichenkosmetiker auf den Friedhof, leibhaftige Blues-Musiker an die Straßenecke oder in die Wirtschaften...
Wirklichkeit hin, Realität her, auch Reichert muss auf der Legende mit dem Teufelspakt herumreiten:
Seinen ohnehin vorhandenen Hang zum Metaphysischen drückt am besten die bekannte Legende von der geheimnisvollen Kreuzung aus, zu der sich der noch unvollendete Blues-Sänger begeben muss. Dort wartet er, mit der Gitarre in der Hand, bis aus dem Nichts eine dunkle Gestalt hinter ihm auftaucht. Er dreht sich nicht um, auch nicht, wenn die Gestalt ihm die Gitarre aus der Hand nimmt, sie stimmt, ein paar komplizierte Blues-Riffs darauf spielt und sie ihm wieder zurückgibt. Damit ist der Teufelspakt geschlossen und von nun an kann der Sänger den Blues vollendet auf der Gitarre begleiten ...
Überholt sind die Fantasien vom Blues als Teufelsmusik und der Blues ist auch keine Anti-Gospel-Messe, quasi als heidnischer Gegenpol schwarzen Christenglaubens. Damit wird allerdings auch nicht gleich das Gegenteil der Fall.
Aus der Unterdrückung hat Gott viele Dinge entstehen lassen. Er hat seine Geschöpfe mit der Fähigkeit ausgestattet, selbst schöpferisch zu sein, und aus dieser Begabung sind die herrlichen Lieder von Leid und Freude hervorgegangen, die es dem Menschen ermöglicht haben, es mit seiner Umwelt in mancherlei Situationen aufzunehmen. Die Blues erzählen die Geschichten von den Schwierigkeiten des Lebens. Sie greifen die härtesten Realitäten des Lebens auf und verwandeln sie in Musik, um mit etwas neuer Hoffnung oder einem Triumphgefühl daraus hervorzugehen. Das ist Musik sieghafter Überwindung. Wenn das Leben selbst weder Halt noch Sinn bietet, dann schafft sich der Musiker beides aus den Klängen dieser Welt.
In dem besonderen Kampf des Negers in Amerika liegt etwas, das dem universalen Kampf des modernen Mensche verwandt ist. Jeder hat den Blues. Jeder sehnt sich nach sinnvollem Leben. Jeder will lieben und geliebt werden. Jeder wünscht sich, in die Hände zu klatschen und glücklich zu sein. Jeder sehnt sich nach Glauben. In der Musik ist ein Mittel gegeben, zu alledem zu kommen.
Das schrieb Martin Luther King, und so sieht das auch Lehmanns Blues and Trouble - Zur Geschichte des Blues: Die Entstehung des Blues falle in die Zeit, in der sich auch die Spirituals bilden. Eine ganze Anzahl Musiker sang sowohl Blues als auch Spirituals. Josh White machte Plattenaufnahmen unter dem Pseudonym "The Singing Christian", die Stärke von Blind Willie Johnson seien Kirchenlieder gewesen und die Blues von Bessie Smith wurden vom Publikum mit Amen beantwortet. Blues and Trouble Memphis Slim meint:
Für mich ist der Blues wie eine gute Medizin. Wenn du es aus dir herausgesungen hast, geht es dir besser. Und den Leuten, die dir zuhören, geht es danach auch besser. In einer gewissen weise ist ein Bluessänger wie ein Prediger. Deshalb sagt man auch von einem richtigen Bluessänger: Er predigt den Blues.
Das ist auch bitter nötig, denn der Blues
hat seine Freunde nicht unter den Satten, Reichen, Zufriedenen. Auf der Terrasse einer Traumvilla ist der Blues ebenso wenig zu Hause wie am Rande des friedlichen swimming pool unter dem neckisch gestreiften Sonnenschirm. Seine Freunde leben in den Wohnvierteln der Großstädte, wo es für viele Familien nur ein einziges gemeinsames Klosett und einen Hydranten gibt; wo auf den Straßen keine Bäume, sondern nur Mülltonnen stehen; wo die Tuberkulose ihre Opfer einsammelt; wo die Verzweifelten in den kleinen Kneipen sitzen und ihre großen Sorgen mit Gin wegschwemmen. Seine Freunde sind die Gestrandeten, Ausgestoßenen, Hoffnungslosen, die Unruhigen und Rastlosen, die auf den Straßen herumwandern, auf der Suche nach einem Job. Die den Anschluss verpasst haben, die Enttäuschten, die Einsamen, die immer im Hintergrund stehen, die Verzweifelten, die Sehnsüchtigen, die Hoffenden - das sind die Freunde des Blues, sie alle haben ihn als ständigen Begleiter. Now, blues and trouble walk hand in hand...
Da singt man nicht den Badewanentango, sondern den Backwater Blues. Vor allem sind sie Schwarz: say God made us all, he made some at night, that's why he didn't take time to make us all white (Sam Chatman). White folks they know how - chuck a coloured man a nickel just to see him bow, singt Leadbelly im "Bourgeois Blues" (gerade erst von den Weissen Chris Jones und Steve Baker aufgenommen -> FW#27).

In den Kapitel "Black Roots - Ursprünge des Blues", "Black Stars - Größen des Blues" und "Black Roads - Wege des Blues" geht Lehmann den Spuren des Genres nach. "Black Songs" enthält 44 Bluestexte, im Original wie in deutscher Übersetzung, und der Autor hat einige sehr interessante Texte ausgegraben. Wie z.B. der braune Bomber Joe Louis den Repräsentanten der Herrenrasse Max Schmeling besiegt:

I came all the way from Chicago to see Jay Louis and Max Schmeling fight,
Schmeling went down like the Titanic when Joe gave him just one hard right.
Well, you've heard of the King of Swing, well, Joe Louis is the King of Gloves,
Now he's the World Heavyweight Champion, a man that the whole world loves.
It was only two minutes and four seconds poor Schmeling was down on his knees,
He looked like he was praying to the Good Lord for Mercy on me, please!
Oder Leadbellys "Hitler Song":
Hitler started out in nineteen hundred and thirty two,
When he started out he took the home from the jew.
We're gonna tear Hitler down, we're gonna tear Hitler down some day.
We're gonna bring him to the ground, we're gonna bring him to the ground some day.
Im Nachwort von 2001 (die Originalausgabe von 1966) schreibt Lehmann: Die Geschichte des Blues ist inzwischen weiter gegangen. Darüber haben andere geschrieben. Die Enzyklopädie des Blues des französischen Autors Gérard Herzhaft geht auf die Mitte der 1970er Jahre zurück, das allererste Werk seine Art, als der Blues noch galt als die lautstarke Äusserung einer Bande besoffener Neger.

Die aktualisierte Enzyklopädie enthält vor allem Features über die Männer und Frauen des Blues, große und wenger große, aber auch Einträge über Blues-Stile, Blues-Regionen, die 300 wichtigsten Blues-Stücke und Enzyklopädie des Blues Wer spielt welches Instrument? Ausführlichere Artikel beschäftigen sich mit Themen wie z.B. "Weißer Blues":

Für die einen ist der Blues eine Musik jenseits von Hautfarbe oder Nationalität, für die anderen ist der Blues ausschließlich die Schöpfung der amerikanischen Schwarzen, und jeder Weisse, der ihn spielt, ist entweder ein Plagiator oder ein Schwindler.
In den Südstaaten gab es zwischen der Unterhaltungsmusik der Weissen und der der Schwarzen keinen großen Unterschied. Erst die Segregation zwang die Schwarzen, sich von der weissen Kultur abzugrenzen, und so schufen sie eine spezielle schwarze Form der Ballade. Die schwarzen Musiker bedienten sich der keltischen Ballade (das Schema AAB leitet sich in direkter Linie davon ab), die weissen Musiker des schwarzen Blues. Die Country-music wuchs an seiner Seite heran wie eine Cousine. Sie begnügten sich nie damit, die Musik der Schwarzen zu kopieren, vielmehr benutzten sie sie, um ihre eigene Musik zu kreieren, zu beleben und zu entwickeln. Die Blues von
Jimmie Rodgers [-> FW#25] z.B. sind völlig eigenständig und waren etwas vollkommen Neues. Mystery Train: Bekannt gemacht von dem Weissen Elvis Presley, war die Nummer entlehnt von dem Schwarzen Junior Parker, der sie offenbar von einer Platte der weissen Gruppe Carter Family kannte.
Ende der fünfziger Jahre wurde die Folk Music an allen Universitäten des Nordens urplötzlich die bevorzugte Musik der Collegestudenten. So fingen zahllose junge Yankees an, Bluesplatten der zwanziger und dreissiger Jahre zu sammeln. Einige gingen sogar noch weiter und spielten deren Repertoire. Die Briten waren die ersten, die die Musik interpretierten. Was sie sich zum Vorbild nahmen, war der elektrische Blues von Chicago, Muddy Waters [-> FW#25]. Die weissen Gruppen der sechziger Jahre brachten eine Bewegung in Gang, die sich weit von ihrem ursprünglichen Anliegen entfernte, und sie fanden sich an der Spitze einer Rockmusik, die sie wahrscheinlich gar nicht gewollt hatten.
Durch den ausserordentlichen Erfolg der Rolling Stones in Amerika konnten auch eine Reihe von jungen Yankee-Musikern nach vorne kommen. Meist waren sie Söhne neu Eingewanderter, oft Kinder von Juden [Mike Bloomfield, Paul Butterfield], die vor den Verfolgungen in Mitteleuropa geflohen waren. Die Bluesgiganten holte immer mehr weisse Musiker in ihre Bands. Die jungen Schwarzen identifizierten sich eher mit dem Rap als mit dem Blues. Die Weissen (und die Gelben!) sind die wesentlichen kommerziellen Stützen dieser Musik geworden. Von Jahr zu Jahr wird der Blues immer weisser ... Ist das noch Blues? In der Form ja, aber seinem Geist nach, seinen Wurzeln, seiner tiefen und emotionalen Bedeutung nach?
Wie sieht es nach Herzhaft aus mit dem Blues in Deutschland:
Ende der fünfziger Jahre stellten zwei deutsche Jazzfans, Horst Lippmann und Fritz Rau fest, dass das europäische Publikum nicht viel vom Blues wusste. Lippmann und Rau entschlossen sich also, eine Präsentation des noch lebendigen Blues zusammenzustellen, mit der sie 1962 eine Tournee durch Europa machten. Es war ein beachtlicher kommerzieller Erfolg. Das Ereignis wiederholte sich elfmal in Folge, bis 1972. Das American Folk Blues Festival hat Europa dem Blues geöffnet, hat eine Unzahl junger Musiker beeinflusst, vor allem in Großbritannien, die ihrerseits mithalfen, die englische Rockmusik ins Leben zu rufen. Die beeinflusste wiederum das weisse Amerika.
Das zunehmende Interesse am Blues bewegte einige schwarze Bluesman, sich in Deutschland niederzulassen. Am bekanntesten ist hier
Champion Jack Dupree, der sich 1975 in Hannover niederließ, wo er 1992 verstarb. Der Gitarrist Louisiana Red lebt ebenfalls seit Anfang der achtziger Jahre in Hannover. "The Blues Brothers" von Dan Ackroyd und James Belushi 1980 führte fast zu einer Blues-Brothers-Manie mit dem Aufkommen unzähliger Epigonen. Eigenständigere Wege ging die österreichische Gruppe Mojo Blues Band. Der Pianist und Sänger Götz Alsmann widmete sich dem Jump und Rhythm & Blues der vierziger und fünfziger Jahre.
Über John Lee Hooker heisst es:
Das ist wohl der fleissigste Bluesman in der Geschichte des Blues. Mehr als 500 Titel und Dutzende von Alben hat er aufgenommen! Er ist als Gitarrist sehr begrenzt und ziemlich primitiv und nutzt im Grunde die Elektrifizierung seines Instrumentes, um seine technischen Mängel zu überspielen. Seine Kompositionen bestehen aus zwei Gruppen: Rasende Boogies, in denen sein ungewöhnlicher Sinn für Rhythmus, das Klacken seiner eisenbeschlagenen Absätze, seine hinausgeschleuderten Staccatonoten einem wie eine ganze Band vorkommen, dann die langsamen Blues, mit einer so dichten Atmosphäre, dass man sie mit dem Messer schneiden könnte, mächtige Beschwörungen, bei denen einem schliesslich nicht mehr wohl ist, so sehr reflektieren sie eine depressive Sensibilität. Seine besten Titel gehören zu den tiefsten emotionalen Erlebnissen, die der Blues zu bieten hat.
C.S. Murray hat sich in John Lee Hooker - Der Boogie-Mann das Phänomen Hooker etwas genauer angesehen und arbeitet sich durch die Mythen, die John Lees Werdegang umgeben, zuweilen sich in Abschweifungen über Gott und die Welt ergehend.

Vieles vom Leben des T-Rex des archaischen Blues (Reichert) liegt im Dunklen. Nun zumindest ist er irgendwann zwischen 1915 und 1923 unweit von Clarksdale im Mississippi Delta geboren. Ich weiss, warum die besten Bluesleute aus Mississippi John Lee Hooker - Der Boogie-Mann kommen, sagt Hooker. Weil es der schlimmste Staat ist. Wenn man aus Mississippi ist, dann hat man den Blues. Die Sklaverei wurde nur durch die Rassentrennung ersetzt. John Lee singt als Kind in der Kirche. Ein umherziehender Bluesman, der seiner Schwester den Hof macht, schenkt ihm eine Gitarre. Ich durfte nicht im Haus spielen, mein Papa nannte sie den Teufel. Sein späterer Stiefvater und Bluesman Will Moore, der schon mal mit Charley Patton oder Blind Lemon Jefferson auftritt, bringt ihm den Boogie bei, sein ganz spezieller Rhythmus.

Nur im Unterhaltungsgewerbe konnte ein schwarzer Mann die harte Arbeit auf den Feldern mit einigem Anstand vermeiden. Die Alternative zum Musiker war eigentlich nur, als Zuhälter herumzulaufen. (Reichert)
Meiner Ansicht nach wird Musik von Leuten gemacht, die von ihr gerettet wurden. Jimi Hendrix hätte mit sich gar nichts anderes anfangen können. Und John Lee Hooker - was soll einer wie er sonst machen? Bei McDonald's arbeiten? (Rollins)

Ich hatte die Wahl: in die Schule zu gehen und zu arbeiten - oder abzuhauen und berühmt zu werden. Aber John Lee ging nicht den üblichen Weg: Ich bin damals nicht nach Chicago gegangen, denn da war mir zu viel Konkurrenz. Detroit war meine Stadt. T-Bone Walker schenkt Hooker eine Stromgitarre und 1984 hat er mit "Boogie Chillen" seinen ersten Hit:

Die eindringliche Wiederholung eines einzigen Akkords, getrieben von einem ungeduldigen, von geradezu besessenen Füßen geklopften Beat mit der Unwiderstehlichkeit eines Grippevirus. Ein Stil so archaisch, dass er älter zu sein scheint als selbst die ältesten Bluesaufnahmen. Gleichzeitig hatte die Platte eine zeitgenössische Urbanität. Es war dies Countryblues von der Verandah, aber adaptiert für das verschärfte Tempo und das klaustrophobische Ambiente der Stadt.
"Boogie Chillen" findet im "Blues Brothers"-Film Verwendung, als Jake und Elwood an "Bobs Country Bunker" vorfahren. Ein Film, von dem Reichert etwa meint:
Die Handlung von "Blues Brothers" war bescheuert, die Gags hatten Rübezahlbärte, die Originalmusik, ein völlig beliebiger Mischmasch aus Gassenhauern und Obskuritäten, war erbarmungswürdig schlecht gespielt und gesungen und mit lächerlicher Akrobatik im Stil verstaubter Tanzfilme aufgemotzt. Wie nicht anders zu erwarten, war das auf die angloamerikanische und bundesdeutsche Durchschnittsintelligenz zugeschnittene Machwerk ein Riesenerfolg.
Einen weiteren seiner Hits - "Boom Boom" von 1961, der wahrscheinlich reinste Ausdruck schierer Lust in der gesamten populären Musik - spielt Hook mit einigen Mitgliedern aus der Band von Muddy Waters (-> FW#25) auf der Straße vor Aretha Franklins "Soul Food Café". Das sind - abgesehen von Robert Johnsons Reiseziel "Sweet Home Chicago", das im Originaltext witzigerweise in Kalifornien liegt - wahrscheinlich die einzigen wirklichen Blues-Titel in dem meiner Ansicht nach durchaus unterhaltsamen Kult-Film. "Blues Brothers" ist gute Reklame für John Lee, aber sein Management hat etwas Wichtiges vergessen: Der Soundtrack verkauft Millionen von Exemplaren, aber keine der Hooker-Nummern ist dabei. John Lee erhält einen Tantiemenscheck über 13 Dollar.

Mitte der 1980er Jahre landet Hookers Management jedoch einen Coup, "The Healer", eine richtige, ureigene Platte von John Lee Hooker und gleichzeitig "ein Tribut von Freunden": Robert Cray, Los Lobos, Carlos Santana spielt im Titelstück Gitarre, für das Duett mit Bonnie Raitt, "I'm in the Mood for Love", erhält er einen Grammy. Der stotternde, des Lesens und Schreibens unkundige Siebziger, im flotten Jacket aus Haileder, der nur zwei Tonarten, einige wenige elementare Songs und sogar noch weniger Beats beherrscht, landet einen weltweiten Hit und wird zum ältesten Popstar der Welt.

Musikalische Geschichte hatte Hook aber bereits zuvor geschrieben: Eine der Teenagebands von David Bowie spielt eine Menge Material von John Lee, Animals erste Studioaufnahme ist eine Version von "Boom Boom", ein Viertel des ersten Aretha Franklins-Album besteht aus Hooker-Titeln, die Doors borgen sich "Crawlin' King Snake" aus, Canned Heat nehmen mit John Lee ein ganzes Boogie-Album auf, Dr. Feelgood verarbeit in "Milk and Alcohol" ein drittklassiges Hooker-Konzert, undundund. Pete Townshend schwört: Ohne ihn gäbe es keinen "Power-Akkord".

Auf seinem Stuhl, vornübergebeugt, von der Sonnenbrille geschützt, arbeitet Hooker sich durch seine Geschichten von Kummer und Einsamkeit, Reue und Verzweiflung, Lust und Zorn. Hooker selbst nennt das, den Blues predigen. Über diesem einzelnen hämmernden Riff inszeniert er die Verherrlichung des einen Fakts: Alle Anwesenden haben über die gegenwärtigen Widrigkeiten schlicht dadurch triumphiert, dass sie - hier und jetzt - diesen einen Augenblick der Solidarität und der Freude gefunden haben. Wer leidet, kann immer noch Boogie spielen, und wer Boogie spielt, leidet nicht.
John Lee Hooker ist 2001 gestorben und bringt nun wer-weiss-wem die Bluestöne bei: Ain't no heaven, ain't no burning hell. Where you go when you die, nobody can tell. Aber eins ist sicher, he went on boogyin' just the same.


Herzhaft, Gérard, Enzyklopädie des Blues. Hannibal, St. Andrä-Wördern, 1998, ISBN 3-85445-132-6, 363 S, €33,50.
Lehmann, Theo, Blues and Trouble - Zur Geschichte des Blues. Aussaat, Neukirchen-Vluyn, 2001, ISBN 3-7615-5088-X, 247 S, €19,90.
Reichert, Carl-Ludwig, Blues - Geschichte und Geschichten. dtv, München, 2001, ISBN 3-423-24259-0, 273 S, €20,- (mit CD).
Shaar Murray, Charles, John Lee Hooker - Der Boogie-Mann. Hannibal, Höfen, 2000, ISBN 3-85445-186-5, 479 S, €29,90.

Mehr Blues: FW#25, FW#26

T:-)M's Nachtwache, FW#27

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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 04/2004

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